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Gezeiten des Krieges

Gezeiten des Krieges

Titel: Gezeiten des Krieges
Autoren: Loren Coleman
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trug sie vorsichtig auf. Auf diese Weise schaffte er zwei bis drei Schriftzeichen am Tag.
    Er war gerade bei der Hälfte des zweiten, als die Zellentür aufflog und zwei Maskirovka-Agenten eintraten. Mai Wa zuckte weder zusammen, noch drehte er sich um. Was immer ihm bevorstand, es würde ohnehin geschehen.
    »Noch mehr grandiose Selbsttäuschungen?«, fragte Michael Yung-Te, und Ungläubigkeit färbte jedes Wort. Eine gleichgültige Pause. »Steh auf, Mai Wa.«
    Der alte Mann zog das Stoffband fester um die verfärbten Fingerspitzen und zeichnete weiter eine dunkle Linie auf die hellgraue Wand.
    Yung-Te trat in die Kammer. Er streifte mit dem Stiefel die Kante der dünnen Matratze. »Du sollst aufstehen, habe ich gesagt.« Diesmal fiel sein Tonfall härter aus. Wütend.
    Eine zweite Bitte? Das war neu. Beinahe ungewöhnlich genug, ihn gehorchen zu lassen. Stattdessen beendete Mai Wa das Ideogramm für >Loyalität< und richtete sich auf, um seine Arbeit zu begutachten.
    »Das höchste und wichtigste Ideal im Leben eines MechKriegers ist Loyalität«, flüsterte er.
    Es war der Anfang des sechsten Lehrsatzes des Lorix-Ordens, einer quasireligiösen Philosophie, die zu den Grundlagen des capellanischen Staates gehörte. Und es gehörte zu den wichtigsten Prinzipien der capellanischen Kriegerhäuser, der EliteMilitärenklaven der Konföderation: Imarra ... Kama-ta ... Daidachi... Hiritsu ...
    Ijori?
    Wie immer führte der Gedanke an das untergegangene Kriegerhaus Mai Uhn Wa zurück zu seinen Versuchen, es auf Liao neu zu errichten, und zu dem verheerenden Zusammenspiel, auf das hin ComStar zum falschen Zeitpunkt zusammengebrochen war. Ijori De Guäng. Das Licht Ijoris. Hätte er nur sechs Monate mehr Zeit gehabt.
    »Mai Wa ...«, warnte Agent Yung-Te.
    Die Maskirovka-Offiziere hatten ihn noch immer nicht gepackt und von seiner Arbeit fortgezerrt. Mai Wa spürte, dass hinter diesem Besuch mehr steckte als eines der üblichen Verhöre oder Umerziehungsgespräche. Er stellte die Holzschale mit Farbe beiseite, faltete den Tuchstreifen zusammen und legte ihn daneben. Langsam stand er auf, wobei er die rechte Seite schonte. Dort waren die Rippen verbunden und die Haut war von Elektroschocks verbrannt. Akkurate Spalten mit Schriftzeichen bedeckten fast die gesamte Wand. Der Text begann in der oberen rechten Ecke, so hoch, wie Mai Wa kam, und verlief entsprechend alter Tradition von oben nach unten und von rechts nach links. Die ersten fünf Lehrsätze waren vollständig, den sechsten hatte er gerade begonnen. Der Platz würde knapp für alle ausreichen.
    »Eine solche Hingabe wäre im Dienst für den Staat bewundernswert gewesen - anstatt gegen ihn.«
    Mai Wa drehte sich um und verbeugte sich leicht vor den Wärtern. »Ich bin ein Verräter«, bestätigte er. »Ich diene der Konföderation.«
    Michael Yung-Te war Ende dreißig, mit schwarzem Haar und einem hageren, kantigen Gesicht. Hinter graublauen Augen brannte der Ehrgeiz. Er näherte sich zügig jenem zeitlosen Aussehen, mit dem manche Männer asiatischer Abstammung gesegnet sind. Sein Begleiter wirkte älter und war von den tief in die Höhlen gesunkenen Augen geprägt, der Miene eines Menschen, der zu viele Geheimnisse kannte und zu viel sinnlose Gewalt miterlebt hat. Beide trugen anthrazitgraue Anzüge im Han-Stil und gestärkte weiße Hemden. Ihre Mandarinkragen waren am Kehlkopf mit einem dreieckigen Knopf in Form des capellanischen Wappens geschlossen.
    »Du wirst ein Exempel für andere angehende Verräter sein«, stellte der ältere Agent fest, aber seiner Stimme fehlte die übliche dogmatische Gewissheit.
    Mai Uhn Wa betrachtete die beiden Männer mit erwachender Neugier. Ein angespanntes Lächeln zupfte ihm am rechten Mundwinkel. Die linke Gesichtshälfte reagierte trotz der Wiederherstellung des Jochbeins nur noch träge. »Wirklich?«, fragte er.
    Yung-Te hielt seinen Begleiter mit erhobener Hand zurück. »Keine Spuren«, erinnerte er den Mann, der vortrat und Mai Was Schale gegen die Wand trat. Rotbraune Farbe spritzte über die untersten Hohlziegel. Mehrere große Spritzer verschmierten das Schriftzeichen für >Loyalität<.
    »Ein unordentliches Ende«, stellte Mai leise fest.
    O ja. Diesmal war es anders.
    Mai Uhn Wa humpelte in die Kammer des Himmelthrons, das Haupt gebeugt, die Knöchel mit einer kurzen Polymerkette gefesselt. Seine bloßen Füße flüsterten über den Teakboden, dessen schwarzes Holz so kräftig lackiert war, dass sich der gesamte Raum
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