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Gewitter der Liebe

Gewitter der Liebe

Titel: Gewitter der Liebe
Autoren: Sarah Lee Hawkins
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Anzeigen von Leuten aus San Francisco, die händeringend Arbeitskräfte suchen, weil die Menschen dort alles stehen und liegen lassen, um auf die Goldfelder zu gehen.«
    Die Menge verstummte, und die Frauen setzten nachdenkliche Mienen auf. Nicht, dass eine von ihnen ernsthaft in Erwägung zog, ins ferne San Francisco zu gehen, aber der Gedanke, für seine Arbeit ordentlich bezahlt zu werden, reizte die meisten; da machte noch nicht einmal Julia eine Ausnahme. Sie könnte bei einem Schneider arbeiten oder als Weißnäherin in einem Hotel, aber das waren nichts als Träume, die sich niemals erfüllen würden.
    Die Glocke mit dem unerbittlichen harten Ton kündigte das Ende der Mittagspause an, und missmutig begaben sich die Arbeiterinnen wieder an ihre stickigen Plätzen, um bis abends über den Arbeitshemden zu sitzen.
    Doch auf dem Heimweg ins ungefähr zwei Meilen entfernte Quartier, den Julia und Lilly stets gemeinsam nahmen, wurde das aktuelle Thema erneut aufgenommen.
    »Wie viel Geld hast du gespart?«, erkundigte sich Lilly und hakte sich bei Julia unter. »Ich habe achtzehn Dollar, und du?«
    Automatisch blieb Julia stehen. »Ungefähr zwanzig Dollar, wieso? Du denkst doch nicht etwa daran, dir eine Schiffspassage zu kaufen, um in die Ungewissheit zu fahren? Ich spare übrigens auf einen neuen Wintermantel, der vom letzten Jahr ist inzwischen vollends zerschlissen.«
    Lilly winkte ab. »In Kalifornien brauchst du keinen Wintermantel. Ich wollte mir übrigens einen neuen Hut für das Ersparte kaufen, aber das kann ich später noch tun.« Sie zog Julia weiter. »Na komm, mir ist kalt.«
    »Was hast du also mit deinen Ersparnissen vor?«
    »Mit einem Treck zu reisen wäre billiger, nicht wahr?« Lilly lächelte geheimnisvoll und versprach ihrer Freundin, zu Hause näher darauf einzugehen.
    Das hässliche Backsteingebäude mit den schmalen hohen Fenstern, in dem die beiden Frauen untergekommen waren, lag in einer Reihe ähnlicher Häuser. Jeder Winkel der engen Räume war bis auf den letzten Zentimeter bewohnt, vom Säugling bis zum Greis, der von seiner Familie mitversorgt werden musste. All diese Familien arbeiteten in den umliegenden Textil-, Maschinen- oder Nahrungsmittelfabriken – sogar die größeren Kinder waren gezwungen, dort zu arbeiten, um ihre Familien zu unterstützen.
    Im Treppenhaus roch es nach Kohl, schmutzigen Windeln und Schimmel. Keine Familie besaß mehr als ein Zimmer, der Abort befand sich im Hinterhof, Wasser gab es über eine rostige Pumpe daneben. Die Menschen, die hier lebten, waren größtenteils Einwanderer, hatten ihren Traum von einem besseren Leben in der Neuen Welt längst begraben.
    Im obersten Stockwerk, zu dem man über eine schmale Holzstiege gelangte, bewohnten Julia und Lilly eine der Mansardenkammern – gerade groß genug für zwei schmale Bettstellen, ein wurmstichiges Regal, eine ebenso wurmstichige Kommode und einen wackeligen Holztisch unter der Dachluke.
    Lilly machte eine umfassende Bewegung, nachdem Julia die Petroleumlampe entzündet hatte. »Sag selbst, willst du ewig hier hausen?«
    »Selbstverständlich nicht!«, kam es empört zurück. Julia setzte sich erschöpft auf die Kante ihres Bettes, denn es war wie üblich ein langer, harter Tag in der Fabrik gewesen. »Vielleicht haben wir ja eines Tages Glück und finden eine besser bezahlte Arbeit als die bei Barclay & Wilson . Dann könnten wir uns ein richtiges Zimmer mieten.«
    Hart lachte Lilly auf. »Wie lange willst du darauf warten?«
    »Nun, es wäre doch auch möglich, dass ich einem Mann begegne, der sich in mich verliebt und heiratet und mir ein schönes Zuhause bieten kann.«
    »Vergiss es.« Lilly nahm ihren billigen Filzhut ab und schleuderte ihn achtlos auf das Bett. Dann löste sie die Haarnadeln und ließ das lange Blondhaar bis über die Schultern gleiten. »Solange du in New York bleibst, wird sich nie etwas ändern. Wo willst du einen Mann kennenlernen, der nicht ebenso arm ist wie du?« Sie wies auf den Fußboden, denn aus dem Zimmer direkt unter ihnen drangen erst erregte laute Stimmen von Erwachsenen in polnischer Sprache hinauf, dann das Geschrei einiger Kinder. »Du wirst so enden wie die Karows unter uns und all die anderen, die hier leben.«
    Das alles wusste Julia selbst, doch das Träumen von einem besseren Leben konnte ihr niemand verbieten. Sie löste die Knoten ihrer derben Schuhe, ließ sie auf den Fußboden poltern und zog die kalten Füße unter ihren Körper, um ihnen neues
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