Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
gesetzt hatte.)
    Ich drückte fest Claras Hand.
    Schweigsam setzten wir unsere Runde durch den Park fort – Hand in Hand. Bekanntlich mussten wir noch bis Freitag, bis zum Place de l’Église warten, bevor ein erster, noch nicht aus dem Kokon der Keuschheit befreiter Kuss auf die Lippen …
    Ich schlief noch immer in dem schönen Eckzimmer, in das ich mich auch zum Arbeiten zurückzog.
    Ich fuhr fort, jedes Ereignis, das es mir wert erschien, in mein rotes Heft einzutragen, und ich kam schneller mit meinen Kompositionen
Adagio con fuoco
und
Morendo ma non troppo
voran, seitdem ich Clara begegnet war.
    Ich wurde es nicht müde, Clara beim Spielen zuzuhören, ich hätte ihr bis zur Stunde meines Todes zuhören können.
    Sie bereitete sich auf internationale Wettbewerbe vor. Würde Preise gewinnen, eine große Karriere machen. Streifte mich nicht gar der Gedanke, dass sie eines Tages meine Kompositionen einspielen könnte? Ja. Allerdings, je weiter ich vorankam, desto mehr hoffte ich, der erste zu sein, der sie einspielen würde, wenn nicht gar der Einzige, nicht etwa aus Stolz, sondern weil ich mir sicher war, der Einzige zu sein, der ihnen Leben einflößen könnte, damit meine ich, mein Leben einflößen, wozu natürlichkein anderer fähig wäre – darin eine unvergleichliche Fülle zu finden und ihre Interpretation zu einer höchst beglückenden Vollendung zu führen.
    Doch angesichts meiner derzeit kindlichen Schüchternheit hätte ich Clara von meinen Arbeiten nicht einmal das kleinste Häkchen einer Note zeigen können.
    Schüchternheit überkam mich auch, als ich auf ihr Drängen hin etwas Klavier spielen sollte, irgendeine Bearbeitung von Johannes Ockeghem oder Bartholomeo de Escobedo, oder von Benedikt Appenzeller, die sie sich von mir wünschte. Hingegen konnte ich auf meiner schönen Gitarre problemlos zwei, drei Stücke aus meinem Flamencorepertoire spielen, die mein plötzlich wieder fügsames Gedächtnis in meine Finger zurückkehren ließ, auch ließ ich mich hinreißen etwas zu singen (am Donnerstagabend um zweiundzwanzig Uhr: Mein Blick fiel in dem Moment auf die Standuhr, da ich, nach einer erfolgreich bezwungenen langen Melisme wieder die Augen öffnete, einer Melisme, für die meine Stimme in ziemliche Höhen hatte hinaufsteigen müssen – die depperte Miene kann man sich ja lebhaft vorstellen –, ein kurzes
copla, No canto por quem e escuchen
, lauteten die verwirrenden Worte des anonymen Dichters aus den Gassen Sevillas,
ni para lucir la voz
, »Ich singe weder, damit man mir zuhört, noch, um meine Stimme zur Geltung zu bringen.«)
    Häufig schwelgten wir, nebeneinander sitzend und uns bei der Hand haltend, in aufgezeichneter Musik (aber ich muss sagen, dass ich meine Spitzengeräte in puncto Klangwiedergabe vermisste, die den ’91, wie man sich vielleicht erinnert, von Michel Nomen für seine Nichte gekauften Geräten weit überlegen waren).
    Die Musik lullte uns ein.
    Wir waren allein auf der Welt, und die Welt schien auf ihre Geburtsstunde zuzustreben, während wir außerhalb der Zeit standen, auf der Unordnung der aufeinanderfolgenden Augenblicke dahintreibend, als hätte uns jenes Buch, das sich auf unsichtbareWeise selbst schreibt und das man gemeinhin als das Schicksal bezeichnet, uns aus seinen Seiten verbannt und die Dinge nach den strengen Regeln der Symmetrie geordnet, ohne sich länger für die Impasse du Midi zu interessieren – dann kam der 6. Juni ’08, der 42. Jahrestag jener Stunde, in der Albin in die Finsternis sank und ich das Licht der Welt erblickte, jener Tag, an dem alles begann.
    Ich wusste nicht – ja, ich wusste nicht! –, dass Clara über solche Kochkünste verfügte und sich hervorragend darauf verstand, mit dünnen Scheiben rohen Schinkens belegte Kalbsschnitzel genau richtig zu braten. (Ich habe Fleisch bestimmt noch nie mit solchem Genuss gegessen.) Was für ein köstliches Mittagessen! Schweigen, Lächeln, weder lullten uns die musikalischen Stimmen ein, noch verhedderten wir uns länger in den Fäden unserer unfassbaren Geschichten – sondern die scheinheiligste Wirklichkeit (köstlicher grüner Spargel, den Clara nur kurz überbrüht hatte, Erdbeeren mit Zimtsirup, dampfender Kaffee in feinen weißen Tassen) schien uns aus unserem zweifelhaften Traum zu reißen und uns endlich dem Leben übergeben zu wollen.
    Die Mittagsstunde war vorüber.
    War das Ereignis, das sich am frühen Nachmittag zutragen sollte, nun dazu angetan, uns noch tiefer in unsere
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher