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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Träume zu stoßen oder uns im Gegenteil ins Leben zu holen? Ich frage das ganz naiv und überlasse dem Leser das Urteil.
    Nun dann.
    Es war fünfzehn Uhr. Ich befand mich auf meinem Zimmer – es war kühl und dank der dicken Mauern gut geschützt, über die Fenster strichen die Zweige eines Kastanienbaums, die der Wind mit sanftem Nachdruck gegen die Scheibe presste – und war gerade in irgendeine Aufgabe vertieft – nein, was sage ich, in eine sehr präzise Aufgabe, nämlich den in meinem roten Heft verbliebenen Platz mit Aufzeichnungen über die mit Clara verbrachten Tage zu füllen – als ich plötzlich in der großen Stille desHauses und der Sackgasse Clara im Garten aufschreien hörte, wo ich sie eine dreiviertel Stunde vorher allein zurückgelassen hatte, auf einem Liegestuhl in der Sonne ausgestreckt und im Begriff, den 6. und letzten (Anfang April erschienenen) Band meiner Bearbeitungen von Meistern der Renaissance zu überfliegen, jene, die sie am wenigsten kannte – vorwiegend Meister der Renaissance, aber es gab in dieser Sammlung auch zwei Stücke, die am Ende vom ersten Drittel des 17. Jahrhunderts von einem spanischen Komponisten geschrieben worden waren, Miguel Luis de Derrota, der nach Mexiko gegangen war (so wie einige seiner geschätzten Landsleute es zu unterschiedlichen Epochen häufiger getan hatten, darunter Alonso Lobo, Juan Gutiérrez de Padilla oder auch Juan de Lienas), und der, nun da er von seinen Wurzeln und der Entwicklung der religiösen Musik in Spanien abgeschnitten war, im 17. Jahrhundert in Mexiko nahezu genauso komponierte wie man es schon Mitte des 16. Jahrhundert in Spanien getan hatte, sodass bis zu seinem Tode …
    Der Schrei, der Angstschrei! Ich sprang ans Fenster und sah Clara im Garten stehen, allein, eine Hand vor dem Mund – von welcher Furcht ergriffen?
    Ich stürzte die Treppe zu ihr hinunter.
    Ein graues Lederheft lag zu ihren Füßen – und in, wie viel, in drei Metern, ja, in drei Metern Entfernung von ihr schien es, als würde sich ein Teil der Grasoberfläche vom restlichen Rasen unterscheiden, als wäre etwas oder jemand an genau dieser Stelle hingestürzt und als würde sich das Gras gerade erst wieder aufrichten und entsprechend seine Farbe, genau in dem Moment, als ich hinsah, leicht verändern.
    Ich umfasste Claras Schultern und flehte sie an, mir zu sagen, woher diese Furcht rührte, mein Schatz, woher? (Nein, ich sagte nicht »mein Schatz« zu ihr, noch nicht.)
    »Axel!«, schrie sie auf (wobei sie auf die grasbewachsene Stelle zeigte, die meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte und mir einen Moment lang heller erschienen war). »Er kam auf michzu, ich habe ihn gesehen, und er ist verschwunden, gestorben, auf dieselbe Weise, wie die Verurteilten auf seinem Planeten sterben, er hatte es mir erklärt, ich habe es Ihnen auch erklärt!« (Sie bückte sich, hob das graue Heft auf und reichte es mir.) »In dieses Heft hatte er … aber Sie wissen ja schon alles, alles!«
    Sie brach in Tränen aus. Ich drückte sie an mich, küsste ihr Gesicht – und diesmal ja, diesmal sagte ich zu ihr »mein Schatz«, setzen Sie sich, mein Schatz, beruhigen Sie sich, wir werden jetzt gemeinsam darüber reden, was sich gerade ereignet hat!
    Was hatte sich ereignet?
    Ich betrachtete das Gras. Einige Helme hatten sich noch nicht wieder aufgerichtet, waren noch geknickt – wodurch, seit wann? Ich untersuchte das Heft mit seiner glatten Oberfläche, den schmalen grau-rosa Blumen, die auf den Schnitt gedruckt waren, öffnete es, entdeckte die seltsame Schrift – die aus lauter Kurven und Kreisen bestand, keine einzige gerade Linie, kein einziger Stab –, so wie es mir Clara bereits beschrieben hatte.
    Würde ein Graphologe sie entziffern können? Das hoffte ich.
    Es sei denn, die graphologische Untersuchung würde nicht auf die Existenz einer unbekannten, kohärenten und komplexen Sprache schließen, sondern nur die Betrügerei eines auf Krakeleien spezialisierten Kindes entlarven? Im Moment beschäftigte mich diese Frage jedoch nicht weiter. Ich wollte glauben, ich wollte Clara (ihren »Körper, in dessen Umriss sich die Linien ihrer Brust und ihres Hinterns so harmonisch einfügten«,
Gesetzlos
, Kapitel 1 ), mehr als alles andere.
    Keine »Opera«, kein Raumschiff weit und breit. Von Axel vor seinem Tod zerstört?
    Wir wussten genug über
Stkouspr
und seinen Planeten, um uns vorstellen zu können, was er in seinen letzten Tagen und Stunden erlebt hatte, und als wir
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