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Gesetzlos - Roman

Gesetzlos - Roman

Titel: Gesetzlos - Roman
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
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Ich heiße Luis Archer.
    Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren kam ich auf die Welt.
    »Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren schied ich aus der Welt …«
    Ich war selber erstaunt, wie erbarmungslos hellsichtig ich diesen zweiten Satz formulierte, erstaunt über meine Geneigtheit, ihm vorgeblich Glauben zu schenken an diesem herrlichen Vormittag des 6. Juni 2008, als ich mit Clara in Saint-Maur auf der Place de l’Église stand und mir die Welt ringsumher derart wirklich erschien.
    Es war Freitag, Markttag. Ich hielt Claras Hand fest in meiner. Gemächlichen Schrittes schlenderten wir durch die freundliche, murmelnde Menge: Kunden, die aufmerksam die Auslagen betrachteten, die Pupillen in steter Alarmbereitschaft, wenn es daran ging, Kirschen zu prüfen, Birnen zu befingern oder an Melonen zu schnuppern, als offenbare sich einem auf diese Weise das Größte im Leben oder sein Geheimnis.
    Claras Hand in meiner fühlte sich warm und frisch an.
    Hätte Maxime noch gelebt, wäre mein Glück grenzenlos gewesen – mein lieber, guter Maxime, mein alter Freund, der am vergangenen 24. Mai unter so grausamen Umständen ums Leben gekommen war!
    Ein Händler pries ein Stück rohen Schinken an und riss vorBegeisterung die Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. Clara ließ sich anlocken.
    »Neun Scheiben«, sagte sie. »Schön dünn.«
    Zwar bin ich nicht gerade verrückt nach rohem Schinken, noch nach Fleisch im Allgemeinen. Doch als sie sich umdrehte und mich nach meiner Meinung fragte, pflichtete ich ihr bei – einfach um ihr einen Gefallen zu tun, ihr eine Freude zu machen – mit einem zärtlichen, stummen »Ja«.
    Sie lächelte mich an.
    Claras Schönheit, der schlanke, hohe, geschmeidige Wuchs ihres Körpers, in dessen Umriss sich die Linien ihrer Brust und ihres Hinterns so harmonisch einfügten, verzückte mich in jedem Augenblick.
    Ihr Lächeln entblößte die obere Zahnreihe nur einen Hauch zu weit. »Einen Hauch zu weit«, damit meine ich jene paar Zehntelmillimeter, ohne die ihr Lächeln weniger vollkommen, ihr Liebreiz und ihre Sinnlichkeit weniger zerstörerisch gewesen wären – und ich nutze den deskriptiven Impetus, der mich offenbar erfüllt, um eine Bemerkung über ihre Augen und ihr Haar einfließen zu lassen (bevor ich zu allgemeinen Betrachtungen übergehe): Clara hatte blau-grüne Augen, die (wie mir aufgefallen war) sich zu bestimmten Tageszeiten oder (wie sie mir gesagt hatte) in bestimmten Momenten ihres Lebens verdunkelten – Augen, in denen die sprühende Frische ihrer Jugend funkelte und die der tiefe, zeitlose Ernst ihres Ausdrucks so ergreifend machte. Ihr langes, blondes, dichtes Haar hingegen, das die Rundung ihrer Schultern (oder auch nur einer Schulter) lieblich umschmeichelte, betörte mit seiner hellen, doch stellenweise auch dunklen Farbe, wobei der Übergang von hell zu weniger hell sich mal übergangslos, mal in fein nuancierten Farbabstufungen vollzog, wie von einem Maler aufgetragen, dessen Verliebtheit seiner hohen Meisterschaft in nichts nachgestanden hätte.
    Wir wissen, dass eine große Liebe oder das, was man dafür hält, zuweilen an Nichtigkeiten hängt. So bezeichnet maneine solche Liebe bereitwillig als rätselhaft, vorherbestimmt, göttlichen Ursprungs und unvordenklich alt, obwohl sie bloß von einer Asymmetrie am Körper der Geliebten herrührt, die erst eine Woche zuvor bemerkt wurde, von der unvorstellbaren Zartheit der Haut, die den Fußknöchel überzieht, von irgendeinem besonderen Kräuseln der Lippen, wenn sie lächelt. Zwar würde ich nicht so weit gehen zu behaupten, dass derlei Gründe (das Wunder von Claras körperlicher Schönheit) überhaupt keinen Einfluss auf jene Liebe gehabt hätten, die mich vom ersten Blick an zu ihr trieb. (Auch will ich gleich verraten, dass dieser erste Blick nicht auf Clara selbst, sondern auf ein Bild fiel, das ihr Onkel Michel gemalt hatte, auf ein Gemälde von Michel Nomen mit ihrem Antlitz.) Doch will ich gern einräumen, dass in der Entstehung meiner Hingezogenheit zu ihr – und ihrer Hingezogenheit zu mir – ein unerklärliches Element … Wie soll ich sagen? Ich kann nur hoffen, dass der Bericht meines langen und außergewöhnlichen Abenteuers den Leser – aber auch mich – am Ende die Echtheit unserer Liebe erahnen lässt (und wie ich hoffe, hoffen muss, auch die Echtheit aller Dinge).
    Sie wechselte ein paar Worte mit dem Händler über seine Ware, das schöne Wetter.
    Ihre Stimme war
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