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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Autoren: Johano Strasser
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Zwar können Menschen sich ohne ein gewisses Maß an Sicherheit nicht frei entfalten; dies gilt vor allem, wenn Leib und Leben bedroht sind. Insofern kann die organisierte Entlastung von Gefahren und Risiken tatsächlich ein Gewinn an Freiheit darstellen. Aber hieraus folgt keineswegs, dass die ständige Perfektionierung der Sicherheitssysteme immer günstigere Bedingungen für die Entfaltung eines freien Individuums und eines freien gesellschaftlichen Lebens schüfe.
     
    Im Bereich der militärischen Sicherheit war der Wahnsinn zur Zeit des Ost-West-Konflikts am offensichtlichsten. Ein Weltkrieg aus Versehen oder aus technischem Versagen wurde immer wahrscheinlicher, je schlagkräftiger, zielgenauer und schneller die Machtblöcke sich gegenseitig zu vernichten vermochten. Mehrfach lösten amerikanische Computersysteme in den achtziger Jahren einen Fehlalarm aus, stiegen Atombomber auf, wurden Interkontinentalraketen abschussfertig gemacht. Ähnliche Vorfälle auf der sowjetischen Seite gelangten erst neuerdings an die Öffentlichkeit. Zum Glück konnte in diesen Fällen der Fehler immer noch rechtzeitig korrigiert werden. Aber der Fortschritt der Waffentechnik reduzierte die Reaktionszeiten immer weiter, sodass immer weniger Zeit blieb, um zu prüfen und eine vernünftig begründete Entscheidung zu fällen. Also wurde auch der Entscheidungsprozess automatisiert. Das Stichwort hieß automatische Antwort . Computer sollten uns künftig die Entscheidung über Krieg und Frieden abnehmen. Je fortschrittlicher die Systeme militärischer Sicherheit durch Abschreckung, das zeigte sich in erschreckender Deutlichkeit, desto hilfloser sind wir ihnen ausgeliefert.

     
    Es ist noch einmal gutgegangen, und weil es gutgegangen ist, haben wir vergessen, was wir daraus hätten lernen können. Das Problem besteht nämlich darin, dass wir vordringlich auf technisch-organisatorische Sicherheit, auf formalisierte Regelungen und Verträge setzen und dabei die soziokulturelle, die politische und psychologische Dimension der Sicherheit allzu oft außer Acht lassen. Jeder Mangel ist für die Fachleute nur ein Grund, noch perfektere Systeme zu ersinnen, die vorgeblich jede Möglichkeit des Versagens ausschließen. Die Fachleute glauben an die Systeme und misstrauen den Menschen. Sie bauen an einer technischen Welt, in der der irrtumsanfällige, unberechenbare Mensch überflüssig wird. Günther Anders hat dies mit der These von der »Antiquiertheit des Menschen« kenntlich zu machen versucht. Der Rat der Fachleute lautet: Delegiert eure Entscheidungsfreiheit an die Apparate; die entscheiden objektiv, unbestechlich, fehlerlos; dadurch allein gewinnt ihr optimale Sicherheit. Es ist dieser Prozess der ständigen Verlagerung von Verantwortung von den Menschen auf die Apparate, der uns zwar einerseits von quälender Unsicherheit, von der Qual der Wahl, von täglicher Sorge und Vorsorge erlöst, der uns aber gleichzeitig immer gründlicher anonymen Mächten ausliefert. Geht etwas schief oder werden Schwächen und Lücken im System sichtbar, so erkennen wir unser Ausgeliefertsein. Panik erfasst uns und mündet regelmäßig in den Ruf nach Perfektionierung der Systeme. Doch die Perfektionierung der Systeme erhöht zugleich unsere Abhängigkeit von ihnen. Und wenn die Vielzahl in sich perfekter lokaler und überregionaler Sicherheitsmaßnahmen eine bestimmte Schwelle der Komplexität überschreitet, treten völlig neue und unvorhersehbare Gefahren in die Welt. Sicherheit wird so zum destruktiven Ideal.
     
    »Kein wildgewordener Aggressionsinstinkt ist für unser Überleben so bedrohlich wie das erstarrte, gefühllos gewordene Idealsystem, das sich einer vernünftigen Kontrolle entzieht
und die zyklische Unvollkommenheit des Lebens gegen maschinelle Vollkommenheit und drohende Vernichtung eintauschen will«, schrieb vor Jahren Wolfgang Schmidbauer. Was Schmidbauer für den Einzelnen und seine Beziehung zu anderen Menschen feststellt, gilt auch für die Gesellschaft als Ganze. Wir werden tyrannisiert von einem Ideal perfekter technisch-organisatorischer Sicherheit und verpassen darüber mehr und mehr die Chance, uns aus eigener Kraft und im solidarischen Zusammenwirken mit anderen unserer Freiheit immer neu zu vergewissern.
     
    Die Destruktivität unseres Sicherheitsideals lässt sich in alle Lebensbereiche hinein verfolgen. Wie viel mögliches Liebesglück ist schon verdorben worden, weil einer vom anderen immer wieder Liebesschwüre und
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