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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Autoren: Johano Strasser
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weil die meisten Menschen allzu gern glauben möchten, dass das Geschehen in der sozialen Welt genauso berechenbar sei wie einfache chemische Prozesse.
     
    Um die Radikalisierung des Sicherheitsproblems in der Moderne zu verstehen, genügt es allerdings nicht, allein die sich durch alle geschichtliche Erfahrung und allen gesellschaftlichen Wandel durchhaltende anthropologische Dimension des Problems zu betrachten. Denn offenbar gibt es in der Geschichte der Menschheit Zeiten, in denen die Menschen relativ angstfrei leben, und Zeiten, da sie von Angstwellen mitgerissen werden. Es gilt, den Gründen und Ursachen für die
unterschiedlichen Pegelstände der Angst nachzuspüren, die in der Struktur und Dynamik des historisch-sozialen Umfelds angelegt sind. Es geht im weitesten Sinn um die gesellschaftliche Dimension des Problems.
     
    Adorno und Horkheimer haben bei der Suche nach den spezifischen Ursachen und Gründen für die hier behandelte Fehlentwicklung die Aufklärung selbst dingfest gemacht. »Aufklärung«, schreiben sie in der Dialektik der Aufklärung , »ist die radikal gewordene mythische Angst.« Diese Angst äußert sich den Autoren zufolge in dem überhandnehmenden Streben nach theoretischer Gewissheit und praktischer Sicherheit. Das Dunkel, den mythischen Bereich des Ungewissen, in dem tausend unwägbare Gefahren lauern, gilt es auszuleuchten, um so Gewissheit über das uns Umgebende zu erlangen und aus diesem Wissen Techniken zu entwickeln, um die vielfältigen Bedrohungen abzuwehren, denen wir ausgesetzt sind. Zwielicht darf nicht geduldet, Ambivalenzen müssen in lauter Eindeutigkeiten aufgelöst werden. Bevor der letzte Zweifel, die letzte Unsicherheit beseitigt ist, kann der neuzeitliche Geist keine Ruhe finden, ist er stets auf der Flucht nach vorn, auf der Flucht vor den Mächten der Finsternis ins Licht der wissenschaftlichen Weltbewältigung.
     
    Was Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung hierzu ausführen, gilt freilich nicht für die ganze Breite der Aufklärung, weder für die skeptische Gelassenheit und weise Selbstbescheidung der frühen Aufklärer von Montaigne bis Voltaire noch für ihren Ahnherrn Epikur. Wenn Adorno/ Horkheimer in der Aufklärung vor allem das Produkt der »radikal gewordenen mythischen Angst« sehen, so ist ihnen mit Dorothee Kimmich zu entgegnen, dass die Selbstermächtigung des Menschen im Aufklärungszeitalter durchaus auch genussvoll erlebt wurde: »Das ›Zeitalter der Vernunft‹ sah Emotionalität und Sinnlichkeit des Menschen mit weit
positiverer Einstellung an, als dies im Jahrhundert zuvor der Fall gewesen war.« 3 Wie sonst wohl hätte Michel Eyquem de Montaigne zum Schöpfer der Essayistik werden können, jener riskanten literarischen Form, in der viel gedacht und wenig bewiesen wird, in der die Gedanken so leichtfüßig daherkommen, weil sie nicht in einem geschlossenen Theoriegebäude festgezurrt sind. Kein Wunder, dass einem richtigen deutschen Professor beim Lesen dieser Essais Angstschauer über den Rücken laufen angesichts der halsbrecherischen Kühnheit eines solchen Denkens auf eigene Faust.
     
    Marianne Gronemeyer hat denn auch in ihrem Buch Das Leben als letzte Gelegenheit – Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit Montaigne und Descartes als Antipoden behandelt: Montaigne als den skeptischen Denker, der die Unwägbarkeiten der menschlichen Existenz als unvermeidbar verbunden mit der Fülle des Lebens hinnimmt, und Descartes, der sich aus Angst vor dem Wilden und Unberechenbaren der Natur in eine Welt des Gemachten flüchtet, in der angeblich alles kontrollierbar und beherrschbar sei. 4 Durchgesetzt hat sich freilich, das ist nicht zu leugnen, zunächst in Europa und dann in der ganzen modernen Welt, die Descartes’sche Idee, Sicherheit der Erkenntnis und Sicherheit in der Lebensführung durch die Ersetzung der »wilden« Natur durch eine »gemachte« Umwelt zu erreichen.
     
    Auch Stefan Breuer verortet die Quelle der modernen Sicherheitsbesessenheit in derselben rationalistisch-aufklärerischen Denktradition: »Das sogenannte Projekt der Moderne ist in seinem Ursprung ein Projekt der Sicherheit. Das lässt sich geistesgeschichtlich an Descartes demonstrieren, der die Unsicherheit des Zweifels durch die Methode – den sicheren Weg –
zu überwinden strebte; oder an Hobbes, der als Mittel gegen die Unsicherheit des Krieges aller gegen alle die Einrichtung des sterblichen Gottes, des Leviathan, empfahl.
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