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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Autoren: Johano Strasser
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Sicherheitsbedürfnisse standen, wie wir spätestens seit Max Weber wissen, hinter der Rationalisierung des Rechts. Und wenn man Eric Jones (in The European Miracle, 1981) glauben kann, so war die Fähigkeit zum ›disaster management‹ eine der Besonderheiten, die den Vorsprung der europäischen Nationalstaaten gegenüber den Imperien Asiens begründete.« 5
     
    Was Adorno und Horkheimer, aber auch Gronemeyer und Breuer bei ihrer Kritik vor allem im Auge haben, ist die objektivistische, positivistische Wissenschaft, die um die Subjektseite verkürzte und darum die Natur und den Menschen als Störfaktoren auffassende instrumentelle Vernunft, deren Siegeszug zwar mit der Aufklärung zusammenhängt, aber gleichzeitig eine Verengung derselben darstellt. Hier haben wir es in der Tat mit einem Prozess von erstaunlicher Willkür zu tun, in dem durch Ausgrenzen, Aussperren, Definieren und Verteidigen des Definierten auf Kosten der Vielfalt des Lebens und der Zwiespältigkeit der Phänomene eine scheinbare Sicherheit der Erkenntnis geschaffen wird, die nach dem Motto savoir pour prévoir sich ihre praktisch-technische Entsprechung nach und nach erzeugt.
     
    Das Interessante ist nun aber, dass Adorno und Horkheimer die Sicherheitsbesessenheit der modernen Wissenschaft historisch-soziologisch ausschließlich dem bürgerlichen Besitzindividualismus zuordnen. Adorno hat dies besonders an der Philosophie Edmund Husserls deutlich zu machen versucht: »Angst prägt das Ideal der Husserl’schen Philosophie als das der absoluten Sekurität nach dem Modell privaten Eigentums. Ihre Reduktionen sind solche auf das Sichere: auf
die Bewusstseinsimmanenz der Erlebnisse, deren Rechtstitel keine Macht dem philosophischen Selbstbewusstsein soll entreißen können, dem sie ›gehören‹; auf die Wesen, die frei von allem faktischen Dasein auch aller Anfechtung des faktischen Daseins Trotz bieten. (...) Sein Drang nach Sekurität ist so groß, dass er mit der verblendeten Naivität allen Besitzglaubens verkennt, wie zwangvoll das Ideal absoluter Sicherheit zu deren eigener Vernichtung treibt; wie die Reduktion der Wesen auf die Bewusstseinswelt sie von Faktischem, Vergänglichem abhängig macht; wie umgekehrt die Wesenhaftigkeit des Bewusstseins dieses allen besonderen Inhalts beraubt und alles, was gesichert werden sollte, dem Zufall preisgibt. Sicherheit bleibt als letzter und einsamer Fetisch zurück, gleich der Millionenzahl auf einer längst abgewerteten Banknote.«
     
    Die von Adorno an dieser Stelle vorgenommene Zuordnung des hypertrophen Sicherheitsstrebens zur bürgerlichen Existenz- und Interessenlage erweist sich bei genauerer Prüfung freilich als nicht haltbar, es sei denn, man dehnte den Begriff ›bürgerlich‹ so weit, dass er alle spezifische soziologische Bedeutung verliert. Denn tatsächlich ist, wie jeder aus Erfahrung heute wissen kann, das Sicherheitsbedürfnis der ›Arbeiterklasse‹ (was immer man darunter heute noch verstehen mag) keineswegs geringer als das des Bürgertums, und die dogmatischen Ideologien, die nach dem Tod von Karl Marx in seinem und im Namen der Arbeiterklasse entwickelt wurden und sich im zwanzigsten Jahrhundert als praxisleitende Modelle über die Welt ausbreiteten, waren nicht minder geprägt von dem Unvermögen, Unsicherheit, Ambivalenzen und Widersprüche zu ertragen, litten nicht weniger unter Realitätsverlust, waren nicht weniger lebensfeindlich als ihre bürgerlichen Äquivalente. Und wenn wir noch weiter in die Geschichte zurückgehen, zur Hysterie bezüglich der fälschlich als leprös Bezeichneten, die seit dem 6. Jahrhundert immer wieder in Wellen auftritt, oder zur Panik, die durch
die große Pestepidemie im 14. Jahrhundert ausgelöst wurde, dann erkennen wir, dass der Zusammenhang von Angst und endemisch anwachsenden Sicherheitsmaßnahmen, die bis zur Ausrottung der vermeintlich Schuldigen gehen können, viel älter ist als die bürgerliche Welt. Auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kam es gelegentlich zu Angstepidemien, die einem übersteigerten Sicherheitsstreben mit allen destruktiven Folgen den Weg ebneten. Weder in der Theorie noch in der sozialen Wirklichkeit ist also die moderne Sicherheitshysterie ausschließlich als eine bürgerliche Erscheinung deutbar. Offenbar hat sie ihre Wurzeln nicht nur in der spezifisch kapitalistischen Produktions- und Lebensweise (obwohl ganz offensichtlich der Leistungsindividualismus der Konkurrenzgesellschaft seinen Anteil daran
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