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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Autoren: Johano Strasser
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Freiheit knebelnden industrialistischen Strukturen, die uns zu immer aufwendigeren
Sicherheitsvorkehrungen nötigen, selbst schon eine Antwort auf Angst und Unsicherheit sind. Es handelt sich hier ganz offensichtlich um einen jener sich selbst verstärkenden Prozesse, bei denen die Lösung des Problems zugleich die Wiederkehr des Problems in radikalisierter Form darstellt. Aus einem solchen Teufelskreis kommt man nur heraus, wenn es gelingt, die Bedingungen, unter denen er abläuft, zu verändern.
     
    Damit sind wir wieder bei der Frage nach der eigentlichen Triebkraft der Entwicklung. Angst ist, wie Heidegger in Sein und Zeit sich ausdrückt, ein »Existential«, eine Grundbefindlichkeit menschlichen Lebens. Freud und die an ihn anschließende Psychologie sieht die Quelle aller Ängste im Geburtstrauma. Sie gilt ihm als die Urangst, auf die alle anderen Ängste aufruhen. Gleichzeitig kann durch die Zuwendung der Mutter zum Säugling offenbar eine Art Urvertrauen entstehen, das im späteren Leben hilft, Gefahren und Gefährdungen auszuhalten und zu bestehen. Völlig angstfrei zu leben, ist uns nicht möglich. Wir können uns allenfalls fragen, wie wir sinnvoll und produktiv mit der Angst umgehen können. Entängstigung als Programm ist in dieser Beschränkung möglich und sinnvoll.
     
    Wie können wir lernen, mit der existenziellen Angst, mit der Tatsache, dass wir sterben müssen, mit der »mythischen Angst« umzugehen, die Adorno und Horkheimer zufolge als Triebkraft der modernen wissenschaftlich-technischen Zivilisation wirkt? Wie überwinden wir die Angst vor dem Unbegriffenen und Unbegreiflichen, die »fast pathologische Angst vor allem, das nicht direkt untersucht und unter Kontrolle gebracht werden kann«, eine Angst, von der Lewis Mumford sagt, dass sie »das wissenschaftliche Äquivalent eines viel älteren Atavismus, der Angst vor der Dunkelheit« sei? Oder mit Ludwig Marcuse gefragt: Wie lernen wir »die Angst vor der
nächsten Sekunde« zu ertragen, ohne ins Reich des vorgeblich Absoluten, Ewigen, Unveränderlichen zu flüchten, »jener philosophischen Erfindung ›Sein‹ – von der Nietzsche sagte, dass es ›die Erdichtung des am Werden Leidenden‹ ist«?
     
    Wir könnten auch fragen: Wie lernen wir leben, leben im Bewusstsein unserer Endlichkeit, in Gemeinschaft mit anderen und unter dem Schutz von Institutionen, im Vertrauen auf unsere Selbsthilfekompetenz, aber ohne uns gegen jene fundamentale existenzielle Ungewissheit aufzulehnen, die unaufhebbar zur condition humaine gehört und nichts anderes als der Spielraum der Freiheit ist?



1. Die prekäre Existenz des Menschen
    Im Leben jedes Menschen, zuweilen auch ganzer Gesellschaften, gibt es Phasen des euphorischen Aufbruchs, in denen es für einen Augenblick so aussieht, als sei alles möglich, das Gelingen garantiert. Solche Aufbruchseuphorie kann gewaltige Kräfte freisetzen, zu Taten anspornen, die zuvor gänzlich außerhalb unserer Reichweite zu liegen schienen. Aber in der Regel lässt die Ernüchterung nicht lange auf sich warten. Wenn wir an die Grenzen unserer Gestaltungsmacht geraten, stellen wir erschrocken fest, was wir eigentlich schon immer wussten: dass wir nicht allmächtig sind, dass die Welt uns nicht zu Gebote steht und wir keineswegs alles können, was wir nur fest genug wollen.
     
    Die moderne Heldengestalt des stolzen, wirkmächtigen und autonomen Individuums gibt es bei genauerem Hinsehen gar nicht. Wir werden als hilfsbedürftige Kreaturen geboren, bleiben unser Leben lang tausend Gefährdungen ausgesetzt und von anderen Menschen, ihren Leistungen und ihrer Zuwendung abhängig. Der Selfmademan, der angeblich alles, was er hat und was er ist, sich selbst verdankt, erst recht der von keinem selbstkritischen Gedanken angekränkelte, von Sieg zu Sieg eilende Erfolgsmensch ist eine selbstgefällige Fiktion, die sich bei der ersten ernsteren Krankheit, beim ersten Schicksalsschlag, spätestens aber in der Todesstunde in nichts auflöst.
     
    Andererseits wissen wir, dass uns niemand die Verantwortung für unser Leben abnehmen kann. Wir allein müssen als freie Menschen entscheiden, wie wir uns in dieser oder jener Lebenssituation verhalten, welchen Weg wir einschlagen, was wir uns zumuten können und was nicht. Letztlich müssen wir selbst für unsere Taten und ihre Folgen einstehen, auch wenn
wir den Eindruck haben, eher Opfer als Täter zu sein. Und wenn wir uns vor lauter Verzagtheit gar nicht zum Handeln aufraffen
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