Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Autoren: Johano Strasser
Vom Netzwerk:
Pisspott. Das Christentum ist in dieser Frage ambivalent. Einerseits gibt es den biblischen Auftrag an die ersten Menschen, sich die Erde untertan zu machen, andererseits wird eine allzu frohgemute Selbstermächtigung als Auflehnung gegen die göttliche Ordnung verdammt, provoziert den Zorn Gottes oder – in säkularisierter Fassung – einen Rattenschwanz unbeabsichtigter und unvorhergesehener negativer Folgen, die poena naturalis .
     
    Das Leben, so stellt es sich den meisten Menschen dar, ist ein ständiger Balanceakt zwischen Selbstbescheidung und Selbstermächtigung, zwischen vorsichtiger Bewahrung des Erreichten und Gegebenen und kühner Nutzung sich bietender Erweiterungs- und Steigerungschancen, zwischen Demut und sträflichem Übermut . Wann ist es genug, wann schon zu viel? Was müssen wir tun, um uns vor dem Verderben zu schützen, was dürfen wir gefahrlos tun, um unser Los zu verbessern, was sollten wir unterlassen, um Folgewirkungen unseres Tuns zu vermeiden, die sich zu einer Katastrophe akkumulieren könnten? Rauchen kann tödlich sein . Das schreiben wir zur Warnung auf Zigarettenpackungen. Ein modernes Memento mori vergleichbar mit dem Brauch im antiken Rom, dem im Triumphzug heimkehrenden Konsul einen Sklaven beizugeben, der dem Triumphator ins Ohr flüsterte: Bedenke, dass du
sterblich bist. Aber soll man, nur weil Rauchen tödlich sein kann, gleich ganz mit dem Rauchen aufhören? Wie wahrscheinlich ist es, dass man an Lungenkrebs erkrankt, wenn man dann und wann oder regelmäßig oder gar übermäßig raucht? Und gibt es nicht auch Menschen, die an Lungenkrebs erkranken, obwohl sie ihr Leben lang nie eine einzige Zigarette geraucht haben?
     
    Wir sprechen von Schicksalsschlägen, wenn einem von uns passiert, was mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit uns allen passieren könnte. Man kann wenig oder gar nicht rauchen und doch Lungenkrebs bekommen; man kann so vorsichtig wie möglich fahren und doch auf der Autobahn ohne eigenes Verschulden in einen Unfall verwickelt werden und für den Rest des Lebens behindert sein. Um das Verhängnis anzulocken, genügt es, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Das Risiko lässt sich berechnen, aber wen es aus der großen Zahl der statistisch in Frage Kommenden trifft, können wir nicht vorhersagen. Gegen Schicksalsschläge gibt es keinen Schutz. Wie können wir uns überhaupt wirksam schützen, wenn das statistisch erfasste und berechnete Unheil jederzeit, an jedem Ort über uns hereinbrechen kann? Die Frage ist für uns Heutige besonders schwer zu beantworten, da sich in der Moderne die uns umgebende Welt zu einem kaum noch überschaubaren Gewirr von Wechselbeziehungen entwickelt hat. Da die Komplexität der Welt, in der wir agieren, uns überfordert und wir (zum Glück, werden wir bei einigem Nachdenken einräumen) noch immer nicht gelernt haben, unser zukünftiges Schicksal vorherzusehen, leben wir in beständiger Unsicherheit.
     
    Dass wir unter solchen Bedingungen überhaupt leben können, über weite Strecken sogar recht unbeschwert und heiter, zeigt in welch erstaunlichem Maß es den Menschen gelungen ist und immer wieder gelingt, sich mit ihrer prekären Lage
zu arrangieren. Abgesehen davon, dass wir die Gabe haben, gelegentlich unsere Besorgnisse zu verdrängen oder einfach zu vergessen, was uns so alles zustoßen kann, sind es im Wesentlichen zwei Strategien, mit denen wir die uns bedrohenden Gefahren zu bannen versuchen: durch das Errichten von Barrieren und die Ausgrenzung von Gefahrenpotenzialen einerseits und durch die Verwandlung von Gefahren in Risiken und ihre Kollektivierung im System der Versicherung andererseits.
     
    Im Mittelalter schützten sich die Stadtbürger durch eine Stadtmauer mit Türmen und bewaffneten Wächtern. Die Gefahr, die von feindlichen Heeren, marodierenden Soldaten und Räubern drohte, wurde auf diese Weise mehr oder weniger effektiv ausgegrenzt. Dasselbe sollten im großen Maßstab die Chinesische Mauer oder später Festungsgürtel wie die Maginot-Linie leisten. Heute träumen manche von einem befestigten Europa, in das kein Islamist, kein Afrikaner, kein russischer Mafioso eindringen kann. In den USA, wo sich seit den achtziger Jahren immer mehr Wohlhabende in sogenannten gated communities einmauern, sollen exorbitante Rüstungsanstrengungen, präventive Kriege und die unter George W. Bush ins Leben gerufene Heimatschutzbehörde Ähnliches für die ganze Nation leisten. Und wo selbst die eigenen Landsleute
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher