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Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit

Titel: Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Autoren: Johano Strasser
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hat), sondern in darunter liegenden allgemeineren Strukturen und Entwicklungen, vor allem in Angsterfahrungen, die sich über Jahrhunderte hinweg in unserem Gedächtnis lebendig erhalten haben.
     
    Die nach Adorno und Horkheimer von »mythischer Angst« getriebene rationale Weltbewältigung, die immer mehr in eine Überwältigung der Welt und des Menschen einmündet, ist als bürgerliche Ideologie im genauen Sinn nicht zu begreifen. Das erkennt man allein schon daran, dass die praktischen Auswirkungen und Anwendungen des am Ideal perfekter Sicherheit orientierten Denkens sich überall auf der Welt mit der modernen Lebensweise geltend machten. Sowohl die bürgerlich-kapitalistischen als auch die früheren (nach eigenem Verständnis) antibürgerlich-sozialistischen Gesellschaften sehen und sahen in theoretischer Gewissheit ein Mittel zur praktischen Unterwerfung der Welt. Die Natur, die Welt in allen ihren Erscheinungen, auch die Natur des Menschen verfügbar, kontrollierbar, beherrschbar zu machen, ist das Programm nicht nur der bürgerlichen Moderne. Horst Eberhard Richter spricht denn auch in seinem Buch Der Gotteskomplex von einer »neurotischen Flucht aus narzisstischer Ohnmacht in die Illusion
narzisstischer Allmacht« und kommt zu dem Ergebnis: »Der psychische Hintergrund unserer so imposant scheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn.« 6
     
    Die Radikalisierung des wissenschaftlich-technischen Zugriffs macht von Anfang an auch vor dem Menschen nicht halt. Auch seine bedrohlich chaotische Natur gilt es zu zivilisieren, zu kontrollieren, zu disziplinieren, zu manipulieren. Von der pädagogischen Besessenheit älterer und neuerer Volksaufklärer über die modernen Erziehungsdiktatoren und Sozialhygieniker bis hin zu den fantastischen Möglichkeiten der genetischen Veränderung des Menschen führt eine Linie theoretischer und praktischer Befassung mit der menschlichen Natur, die Selbstgewissheit und Selbstsicherheit nur dadurch meint gewinnen zu können, dass sie das dominium hominis im technischen Sinn auch auf die Menschen, ihre Triebe, ihre Fantasien, ihre Erbanlagen ausdehnt.
     
    Daniel Frei hat in einer Studie zum Thema Sicherheit schon vor Jahren fünf Gründe dafür angeführt, dass das Sicherheitsstreben in der modernen Industriegesellschaft ein solch inflationäres Ausmaß angenommen hat:
wachsende Komplexität und Interdependenz bei hoher Arbeitsteilung;
hohes Tempo des sozialen Wandels und Schwund des Vertrauten;
wachsendes Risiko bei Entscheidungen, mögliche Fehlentscheidungen haben umfassendere negative Folgen;
Normverlust und Legitimationskrise – da der Geltungsanspruch gemeinsamer Normen erodiert, werden die Handlungen der anderen unberechenbarer;
im Zeitalter der Atombombe – wir könnten hinzufügen: im Zeitalter des Terrorismus – kann kein Staat mehr seinen eigenen Bürgern Sicherheit garantieren. 7
    Wenn Frei recht hat und wir vor der destruktiven Dynamik der modernen Lebensweise nicht kapitulieren wollen, dann müssen wir die Ursachen, die objektiven und die subjektiven, unseres übermäßigen Sicherheitsbedürfnisses genauer ins Auge fassen. Vielleicht erkennen wir dann, dass wir, um relativ angstfrei leben zu können, die Struktur und Dynamik unserer Gesellschaft und die Form unseres Zusammenlebens tief greifend verändern müssen. Folgt man Freis Fingerzeig, so ergeben sich praktische Aufgaben, die in ähnlicher Weise in der Notwendigkeit konvergieren, die industrialistische Produktions- und Lebensweise zu verändern, wie sie vor allem die ökologische Debatte seit den siebziger Jahren zunehmend deutlich gemacht hat: die Reduktion von kritischer Komplexität, organisatorische Dezentralisierung und Verminderung der Abhängigkeit von Fremdleistungen durch Stärkung der Selbsthilfekompetenz, die Herausbildung eines neuen Techniktyps gemäß sozialen und ökologischen Parametern, die bewusste Begrenzung des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die außermenschliche und die menschliche Natur und Rückbesinnung auf die soziale Produktivität kleinerer Einheiten in einem Raum der Öffentlichkeit, der die Spannung des Andersseins aushält. Womöglich sind dies weit wirksamere Wege zur Bewältigung unseres Sicherheitsproblems als die immer weiter getriebene technische Perfektionierung am alten Modell.
     
    Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass die lebensfeindlichen, Angst erzeugenden und
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