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Geschichte des Gens

Geschichte des Gens

Titel: Geschichte des Gens
Autoren: Ernst Peter Fischer
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auch, dass die Häufigkeit vieler Mutationen in dem Maße zunahm, in dem er die Dosis der Strahlung erhöhte.
    So selbstverständlich uns dieser Befund aus heutiger Sicht erscheint, so sensationell wirkte er damals. Was bisher unsichtbar und ungreifbar war, konnte auf einmal von außen erreicht werden. Mullers Beobachtung verwandelte die Gene schlagartig in physikalische Objekte, die sich von Röntgenstrahlen treffen und bei dieser Wechselwirkung stabil verändern ließen, denn mit den Mutationen meinte Muller Varianten im Erbgut, die von einer Fliegengeneration an die nächste weitergegeben wurden. Gene (und Genmutationen) gehörten von nun an in den Einzugsbereich der Physik, und es dauerte dann auch nicht mehr lange, bis die ersten Vertreter aus dieser Disziplin begannen, sich mit diesen Gebilden zu beschäftigen, die bis dahin den Genetikern vorbehalten waren.
Der Einzug der exakten Wissenschaften
    Das oben genannte Jahr 1927 markiert nicht nur einen entscheidenden Zeitpunkt für die Genetik - nämlich den ihrer Öffnung zu den etablierten exakten Wissenschaften -, es markiert auch einen entscheidenden Zeitpunkt für die Physik, nämlich den Abschluss ihres Wandels von der klassischen Form zur Quantenmechanik. Begonnen hatte der Wandel in demselben Jahr, in das Historiker die Wiederentdeckung der Mendel'schen Gesetze datieren - also im Jahre 1900. Entscheidend dafür war die Beobachtung von Max Planck, dass sich die Wechselwirkung von Licht und Materie nur durch die Annahme erklären ließ, dass die Übertragung der Energie dabei nicht kontinuierlich, sondern unstetig und sprunghaft vor sich ging. Als Planck versuchte, das Lichtkonkreter: das Farbenspiel - zu erklären, das ein Festkörper (wie etwa Stahl) aussendet, wenn er immer stärker erhitzt wird, bis er nach rötlichen Anfängen weißglühend schmilzt, führte er nach vielen vergeblichen Bemühungen »in einem Akt der Verzweiflung« die Annahme ein, dass die Strahlungsenergie in diskreten Einheiten, eben den Quanten, vorliege. Plancks Wirkungsquantum erwies sich aber in den kommenden Jahrzehnten als unentbehrliches Hilfsmittel, um die Stabilität der Atome zu verstehen. In ihren ersten Versuchen, konkrete Modelle dieser grundlegenden Bausteine der Materie vorzulegen, präsentierten die Physiker das Atom als ein Miniaturplanetensystem mit negativ geladenen Elektronen, die um einen positiven Kern kreisten. Im Rahmen der klassischen Physik kann solch eine Konstellation allerdings nicht stabil sein, denn aufgrund seiner Ladung strahlt das bewegte Elektron Energie ab, wodurch es zuletzt in den Kern stürzen würde. Mit den Quanten ergab sich nun die Möglichkeit, dieses Zusammenfallen zu verhindern, denn wenn sich die Energie nur sprunghaft ändern kann, braucht sie dazu einen Anlass von außen. Das von Planck eingeführte Quantum stellt eine Art Schwelle dar, über die Elektronen in einem Atom normalerweise nicht kommen, womit - etwas ungewohnt, aber nachvollziehbar -die Stabilität der Materie erklärbar wird.
    Und was hat das nun mit den Genen zu tun? Da ist zunächst die Beobachtung, dass die Physiker das Wechselspiel von Licht und Atomen untersuchten, während die Genetiker nach Mullers Entdeckung das Wechselspiel von Licht und Genen untersuchen konnten. Die Physiker wollten die Stabilität der Atome verstehen, die Genetiker die Stabilität der Gene respektive der Mutationen begreifen. Die Physiker hatten verstanden, dass sie nur Erfolg haben konnten, wenn sie diskrete Quantensprünge - von einem stabilen Zustand in einen anderen - zuließen. Die Genetiker hatten längst gesehen, dass es solche Sprünge im Leben natürlich auch gab, nämlich in Form der sichtbaren Mutationen, die sich ja nicht als kontinuierlicher, sondern als abrupter Wandel etwa in der Augenfarbe oder der Flügelform bei Drosophila zeigten.
    Aus alledem konnte der Schluss gezogen werden, dass sich die Biologie im Allgemeinen und die Genetik im Besonderen dann ähnlich erfolgreich wie die Physik entwickeln könnten, wenn es gelingen würde, das Wechselspiel von »Licht und Leben« so zu verstehen, wie Max Planck und seine Nachfolger das Wechselspiel von »Licht und Materie«. So wie man das Licht benutzt hatte, um eine Theorie der Materie aufzustellen, sollte man die Strahlung benutzen, um eine Theorie der Vererbung - als Teil des Lebens - aufzustellen.
    Diese Perspektive, die durch Mullers Entdeckung der Induzierbarkeit von Mutationen möglich wurde, hat als erster in konkreter Form der
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