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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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Schulleiterin her, und sie hatte Mühe, ihren Zorn zu verbergen. Wie gemein und ungerecht diese Frau war! Nur weil sie einen kleinen Augenblick nicht aufgepasst hatte, sollte sie nun den ganzen schönen Nachmittag in der dunklen Küche verbringen, um beim Abwasch zu helfen und Zinngefäße zu polieren! Ach, und sie sehnte sich so nach dem Garten, den grünenden Pflanzen und den hohen alten Bäumen, den duftenden Blüten und dem lauen Frühlingswind, der Rock und Bluse bauschte …
    Aber Marian hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als Mrs. Potter um eine Milderung der Strafe zu bitten. Oh nein, sie würde nicht zu Kreuze kriechen! Aber schade war doch, dass dieses blöde Buch nur auf den Fußboden und nicht auf Mrs. Potters empfindliche Zehen gefallen war.
    Mr. Strykers erwartete Marian im Speiseraum, der inzwischen von den beiden Küchenfrauen aufgeräumt und für das Mittagessen mit Suppentellern eingedeckt worden war. Mr. Strykers hatte sich jedoch die Freiheit genommen, die Teller am Kopfende des Tisches – dort, wo er sich niedergelassen hatte –, zusammenzuschieben, um seine Ellenbogen auf der Tischplatte aufstützen zu können. Als Mrs. Potter mit Marian in den Raum trat, erhob er sich höflich und machte in Richtung der Pensionatsleiterin eine kleine Verbeugung. Mrs. Potter, die schon über fünfzig und seit zwanzig Jahren verwitwet war, quittierte diese Höflichkeit mit einem geradezu herzlichen Lächeln, das zwei rote Tupfer auf ihre gelblichen Wangen zauberte. Marian kannte das bereits – Mr. Strykers war zwar dick und hässlich, dennoch machte er jeder Frau den Hof, gleich ob jung oder alt, verheiratet oder ledig, Küchenmagd oder Leiterin eines Mädchenpensionats. Und erstaunlicherweise hatte er dabei ziemlich oft Erfolg. Was wohl Mrs. Strykers dazu sagen mochte? Sie sollte eine »respektable Dame aus guter Familie« sein, zumindest hatte Strykers sie einmal so bezeichnet.
    »Ich bin wirklich untröstlich, dass ich Ihnen solche Unannehmlichkeiten bereite, meine liebe Mrs. Potter!«, rief er und legte theatralisch eine Hand dorthin, wo unter der seidenen Weste seine Brust sein sollte, wo aber eigentlich schon der Bauchansatz war.
    »Aber lieber, geschätzter Freund«, gab Mrs. Potter zurück, und ihre Stimme erschien Marian jetzt ganz ungewohnt weich, geradezu schmelzend. »Ich weiß doch, wie sehr Sie von Terminen bedrängt werden, da ist es doch selbstverständlich, dass wir uns ein wenig nach Ihnen richten.«
    Tatsächlich war Mr. Strykers Rechtsanwalt und hatte angeblich viel zu tun. Während Eltern, Verwandte oder Vormunde der Zöglinge normalerweise am Sonntag kamen, wenn die Mädchen Besucher empfangen durften, konnte Mr. Strykers es sich erlauben, mitten in der Woche am Vormittag hereinzuschneien, um ein paar Worte mit seinem Mündel zu reden. Jetzt, da Marian vor ihn trat, um ihn mit einem höflichen Knicks zu begrüßen, nahm sie auch den zarten Duft nach Wacholdergeist wahr, der ihr mit dem Atem ihres Vormundes entgegenwehte. Aha, er hatte vermutlich zuvor mit Mrs. Potter in ihrem geheiligten Boudoir, das die Mädchen so gut wie nie betreten durften, gesessen und mit der Dame einen Wacholderlikör getrunken! Ach was – mindestens vier bis fünf Likörchen hatte er intus, Mrs. Potter hatte sich gewiss nicht geizig gezeigt!
    »Guten Morgen, Marian. Nein, wie hübsch du geworden bist, mein Kindchen! Haare wie gesponnenes Silber, Augen, so unergründlich wie der weite Ozean und die Lippen so rot wie frische Kirschen …«
    Er hatte ihr die Hand gereicht, und als sie die ihre hineinlegte, schnappten seine Finger zu wie ein Fangeisen. Mit einer Festigkeit, gegen die Marian keine Chance hatte, umschloss er ihre Hand und hielt sie, seine Finger waren grob und heiß, rieben sich begehrlich an ihrer jungen Haut.
    »Guten Morgen, Mr. Strykers …«
    Sie zog an ihrer Hand, bekam sie jedoch immer noch nicht frei. Währenddessen spürte sie die hasserfüllten Blicke von Mrs. Potter, der Strykers begeisterte Komplimente in Richtung des jungen Mädchens überhaupt nicht gefallen hatten.
    »Nun, ich sehe, dass ich Sie beide jetzt wohl besser allein lasse«, bemerkte die Pensionatsleiterin unterkühlt. »Sie haben gewiss einige wichtige Dinge mit Ihrem Mündel zu besprechen, Mr. Strykers.«
    »Oh – nichts, das ich nicht in Ihrer Gegenwart aussprechen könnte, meine liebe Mrs. Potter!«, rief Strykers, seinen Fehler einsehend, und ließ nun endlich Marians Hand los. »Aber natürlich darf ich Sie nicht
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