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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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erzählen, und wenn er sich einen Scherz erlaubte, blitzten seine kleinen hellblauen Augen unter den buschigen Brauen.
    »Der kommt doch bestimmt nur hierher, weil er daheim nichts zu fressen kriegt!«, hatte Lisa einmal behauptet. Marian hatte das ziemlich respektlos gefunden, aber ganz unrecht hatte Lisa nicht. Reverend Jasper, der an allen Mahlzeiten teilnahm, aß mit großer Leidenschaft. Es war geradezu fantastisch, welche Mengen an Kartoffeln, Gemüse und Pudding er verschwinden lassen konnte, während er gleichzeitig mit Miss Woolcraft oder auch den Zöglingen des Pensionats eifrige Gespräche führte. Noch merkwürdiger fand Lisa die Tatsache, dass die Nahrungsmittel bei ihm überhaupt nicht anschlugen. Reverend Jasper konnte noch so viel Pudding vertilgen, er blieb trotzdem dünn wie ein Fädchen.
    »Ist das nicht ungerecht? Und ich brauche nur einen Löffel von diesem wässrigen Porridge zu essen – schon muss ich das Mieder zwei Löcher weiter schnüren!«
    Wenn Lisa sich über ihren Körperumfang beschwerte – was sie häufig tat –, stieß sie immer einen tiefen theatralischen Seufzer aus. Im Grunde aber störte sie sich kein bisschen an der eigenen Körperfülle, ganz im Gegenteil: Sie war davon überzeugt, wegen ihrer rosigen Pfunde besonders begehrenswert zu sein. Und tatsächlich schien sie – wenn ihre Ferienberichte nicht gelogen waren – bei den jungen Herren in ihrer Bekanntschaft viele Sympathien gewonnen zu haben. Dies war aber – und da waren Kate und Marian sich sicher – weniger ihrem molligen Körperbau als vielmehr ihrer unbefangenen, selbstbewussten und fröhlichen Art zu verdanken.
    Marian hatte ihren Porridge noch nicht aufgegessen, da erhob Mrs. Potter sich und klatschte in die Hände. Damit war das Frühstück beendet. Man sah, wie Reverend Jasper sich den Mund mit der Serviette abwischte und rasch einen Schluck Tee nahm, da er jetzt das Gebet zum Tagesbeginn sprechen musste.
    »Herr, schenke uns Deine Gnade bei allem, was wir heute verrichten werden, gib uns Zuversicht und Fröhlichkeit, und lass uns nicht …«
    Immer noch konnte man den Rauch riechen, der aus dem Garten in den Speiseraum drang. Mrs. Crincle hatte an diesem Morgen offensichtlich eine ordentliche Menge an Unkraut und trockenen Ästen angezündet. Während Marian mit den übrigen Mädchen der grünen Gruppe zum Klassenzimmer ging, schnupperte sie immer wieder und fand, dass der Rauch heute anders roch als sonst. War das Salbei? Thymian? Pfefferminze?
    »Das stinkt wirklich bestialisch«, bemerkte Lisa hinter ihr. »Sie muss das halbe Kräuterbeet in Brand gesteckt haben, die verrückte Person!«
    Marian blieb an einem der kleinen Flurfenster stehen, um einen kurzen sehnsüchtigen Blick in den Garten zu werfen. Er war weitläufig, denn das Gebäude, in dem sich das Mädchenpensionat befand, war vor Zeiten der Wohnsitz einer adeligen Familie gewesen. Als der letzte Spross des Adelsgeschlechts den Familienbesitz verkauft hatte, waren Haus und Parkanlage schon ziemlich verfallen gewesen. Mr. Duncester hatte mit dem Kauf dennoch ein Schnäppchen gemacht: Er ließ das alte Herrenhaus notdürftig renovieren und umbauen, der Park wurde größtenteils in einen Gemüsegarten verwandelt, um die Kosten für die Ernährung der Pensionatszöglinge niedrig zu halten. Mr. Crincle, der Gärtner, wurde bei seiner Arbeit von den Zöglingen unterstützt. Unkraut jäten, den Boden lockern oder die Obst- und Gemüseernte waren Teil des Erziehungsprogramms.
    Marian liebte diesen Garten trotz allem. Es war Anfang Mai, und die Apfelbäume reckten ihre blühenden Zweige über die Wiese. In den abgezirkelten Beeten wuchsen Kohlpflänzchen, Feldsalat und Petersilie, das helle Kraut der Karotten schoss aus dem Boden, Schnittlauch wucherte in dichten saftig grünen Büscheln. Weiter draußen lagen die Felder mit Kartoffeln, Bohnen und sogar Hafer, dahinter verloren sich die Pflanzungen zwischen den letzten alten Bäumen der ehemaligen Parkanlage. Es waren gewaltige Eichen und Buchen, die dort nahe der bröckeligen Ummauerung wie Wächter einer vergangenen Zeit überdauert hatten. Auch eine Pinie und einige Zypressen hatten sich dazwischen verirrt, vermutlich hatte der adelige Vorbesitzer die Schösslinge von einer Italienreise mitgebracht.
    »Es hat gewirkt«, sagte jemand draußen im Garten. »Salbei und Pfefferminze haben ihn vertrieben.«
    Marian erkannte die Stimme von Mr. Crincle, dem Gärtner. Er war ein merkwürdiger Kauz, Lisa hatte
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