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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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ihn einmal ein Monster genannt, was ganz sicher übertrieben war. Alles an ihm war lang und dürr, besonders seine Arme und Hände, dazu hatte er ein lahmes Bein und humpelte. Aber Kate schwor Stein und Bein, dass er sich trotz dieses Handicaps mit großer Schnelligkeit bewegen konnte. Angeblich hatte sie ihn einmal hinten bei den alten Bäumen wie ein Wiesel umherrennen gesehen.
    »Aber es wird nicht lange anhalten«, erwiderte jetzt Mrs. Crincle. »Jetzt, wo er uns entdeckt hat, werden sie kommen.«
    »Er hat nicht nach uns gesucht, Millie.«
    »Gewiss nicht. Aber er ist dennoch auf uns aufmerksam geworden – schon wegen des Räucherwerks.«
    »Wir mussten das tun, Millie. Sie ist eine von uns, und wir müssen sie schützen.«
    »Wir können sie nicht schützen, Josef. Wir sollten lieber an uns selbst denken …«
    »Aber wenn sie diejenige ist, die sie suchen?«
    »In diesem Fall werden sie ihr nichts tun.«
    »Zuerst wohl nicht …«
    Marian stand immer noch am Fenster, obgleich alle anderen Mädchen längst im Klassenraum verschwunden waren. Ein vielstimmiges Summen erhob sich jetzt in ihren Ohren, bedrohlich wie ein Bienenschwarm, und sie verspürte plötzlich eine unbestimmte Angst. Was für ein seltsames Gespräch! Wen hatten die beiden schützen wollen? Und vor wem?
    Ich muss vollkommen verrückt sein, sagte sie sich und trat vom Fenster zurück. Vermutlich reden sie von irgendwelchen Gartenschädlingen, die Mrs. Crincle heute Früh durch ihr stinkiges Räucherwerk vertrieben hat. Mücken vielleicht oder Wühlmäuse. Am Ende hat sie die Kartoffelkäfer, die sich letztes Jahr in übergroßer Zahl auf dem Kartoffelkraut eingefunden hatten, mit ihrem Rauch in die Flucht schlagen wollen.
    Das Summen in Marians Gehör verlor sich, und sie lief rasch ins Klassenzimmer, wo Reverend Jasper bereits seinen Platz vorn am Lehrerpult eingenommen hatte. Er bedachte sie mit einem strafenden Blick, als sie in den Raum schlüpfte und sich hastig auf ihren Stuhl setzte, doch er sagte nichts. Reverend Jasper hatte eine Schwäche für Marian, es geschah selten, dass er sie tadelte, und manchmal versuchte er sogar, sie Mrs. Potter gegenüber in Schutz zu nehmen.
    »Der Reverend mag dich, weil du solches Engelshaar hast«, hatte Lisa einmal gewitzelt. »Wirklich, wenn man dir zwei Flügelchen an den Rücken binden würde, könntest du gut als Weihnachtsengel durchgehen.«
    Marian hatte sich über diesen Vergleich geärgert, denn sie hielt nicht viel von Engeln. Außerdem war ihr krauses hellblondes Haar fürchterlich störrisch, sodass sie am Morgen zum Kämmen und Zusammenbinden meist doppelt so viel Zeit brauchte wie die anderen Mädchen.
    »Und wenn du ein Ringelschwänzchen hättest, könntest du leicht für ein Schweinchen gehalten werden«, hatte Marian mit spitzer Zunge zurückgegeben.
    Leider verfehlte die Beleidigung ihre Wirkung, denn Lisa lachte nur fröhlich und drückte sich den Zeigefinger gegen ihre Stupsnase, um daraus so etwas wie einen kleinen Schweinerüssel zu formen. Dieses Mädchen besaß ein solch dickes Fell, dass selbst eine Kanonenkugel daran abgeprallt wäre.
    Reverend Jasper hatte inzwischen die Bibel aufgeschlagen und einige Verse vorgelesen, danach aber war er vom Bibeltext abgekommen und erzählte die Geschichte mit seinen eigenen Worten. Drei Weise aus dem Morgenland liefen einem Stern hinterher, weil sie fest daran glaubten, er würde sie zu dem neugeborenen König führen. Was für Dummköpfe sie doch waren! Ausgerechnet bei dem hinterlistigen König Herodes erkundigten sie sich nach dem Weg, und natürlich hatte dieser nichts anderes im Sinn, als diesen frisch geborenen Konkurrenten aus der Welt zu schaffen.
    »Suchet ihn nur!«, meinte Herodes zu den Weisen. »Und wenn ihr ihn gefunden habt, dann sagt mir, wo er ist …«
    Marian stützte ihren Kopf in die Hände und freute sich an dem gleißenden Sonnenstrahl, der wie ein leuchtender Schleier quer durch den Raum fiel. Gleich würde Lisa den Finger heben und vorschlagen, die Gardinen zuzuziehen, weil das Licht sie blendete und sie nicht schreiben könnte. Marian hingegen hatte niemals Schwierigkeiten, ins Licht zu sehen. Es musste an ihren Augen liegen, sie konnte sogar in die Sonne schauen, so lange sie wollte, es schadete ihren Augen kein bisschen.
    Auch wenn Reverend Jasper sich Mühe gab, die Geschichte recht anschaulich zu erzählen – Marians Gedanken schweiften heute ab. Vielleicht lag es an der schläfrigen Stimmung, die über dem
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