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Hana

Hana

Titel: Hana
Autoren: Lauren Oliver
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eins
    A
ls kleines Mädchen war das Schönste am Winter für mich das Schlittenfahren. Wenn es geschneit hatte, überredete ich Lena dazu, sich mit mir am Fuß des Coronet Hill zu treffen, gleich westlich von Back Cove, und gemeinsam wanderten wir dann durch weiche Berge frischen Pulverschnees und zogen unsere Plastikbobs lautlos hinter uns her. Unser Atem stieg in Wolken vor uns auf, das Sonnenlicht brach sich in den Eiszapfen und die ganze Welt erstrahlte in neuem Glanz.
    Vom Gipfel des Hügels aus konnten wir über die schmutzige Linie niedriger Backsteinhäuser blicken, die sich am Pier zusammendrängten, über die Bucht hinweg zu den weiß bekrönten Inseln direkt vor der Küste – Little Diamond Island, Peaks Island mit dem hoch aufragenden Wachturm –; an den großen Patrouillenbooten vorbei, die auf dem Weg zu anderen Häfen durch das eisgraue Wasser pflügten; bis hin zum offenen Meer, das in der Ferne aufblitzte, uns vom Horizont aus zuzwinkerte.
    »Heute fahre ich nach China!«, verkündete ich in der Stille.
    Und Lena wurde so bleich wie der Schnee, der auf ihrer verwaschenen Jacke liegen blieb, und sagte: »Psst, Hana. Jemand könnte dich hören.« Wir durften nicht über andere Länder reden oder auch nur ihre Namen kennen. All diese fernen, kranken Orte waren für die Geschichte so gut wie verloren – sie waren implodiert, in Chaos und Aufruhr versunken, von Amor deliria nervosa zerstört worden.
    Ich aber besaß eine geheime Landkarte, die ich unter meiner Matratze aufbewahrte; sie hatte zwischen einigen Büchern gesteckt, die ich nach Großvaters Tod von ihm geerbt hatte. Die Aufseher waren seine Habseligkeiten durchgegangen, um sich zu vergewissern, dass nichts Verbotenes darunter war. Aber die Karte, die zusammengefaltet in einer dicken Vorschulfibel steckte, einer ersten Einführung in Das Buch Psst , hatten sie offenbar übersehen. Die Karte musste in der Zeit davor im Umlauf gewesen sein. Auf ihr war keine Grenzmauer um die Vereinigten Staaten eingezeichnet und es kamen auch andere Länder vor: mehr Länder, als ich mir je vorgestellt hatte, eine riesige Welt aus beschädigten, zerstörten Orten.
    »China!«, wiederholte ich, nur um Lena zu ärgern und ihr zu zeigen, dass ich keine Angst davor hatte, gehört zu werden, sei es von Aufsehern, Patrouillen oder sonst jemandem. Außerdem waren wir ganz allein. Wir waren immer allein am Coronet Hill. Er war steil und lag ganz nah an der Grenze und nicht weit vom Haus der Killians. Dort spukten angeblich die Geister eines erkrankten Liebespaars, das während der Offensive wegen Widerstands zum Tode verurteilt worden war. Es gab überall in Portland noch andere, beliebtere Schlittenberge. »Oder vielleicht nach Frankreich. Frankreich soll zu dieser Jahreszeit wunderschön sein.«
    »Hana.«
    »Ist doch nur Spaß, Lena«, sagte ich. »Ohne dich würde ich nirgendwo hingehen.« Und dann ließ ich mich auf meinen Bob plumpsen und stieß mich ab, einfach so, und feiner Schnee wehte mir ins Gesicht, als ich an Geschwindigkeit zulegte und die eisige Schärfe des Fahrtwinds spürte, während die Bäume rechts und links von mir zu dunklen Schatten wurden. Hinter mir konnte ich Lena rufen hören, aber ihre Stimme wurde vom Dröhnen des Windes, dem Pfeifen des Bobs auf dem Schnee und dem ausgelassenen, atemlosen Gelächter, das aus meiner Brust drang, hinweggefegt. Schneller, immer schneller, mit klopfendem Herzen und rauer Kehle, verängstigt und begeistert zugleich: ein weißes Laken, eine endlose Brandung aus Schnee, die vor mir aufstieg, als der Hügel flacher wurde …
    Jedes Mal wünschte ich mir, abzuheben. Ich wünschte mir, vom Bob geworfen zu werden und in dieser grellen, blendenden, leeren Strömung zu verschwinden, einem Schneekamm, der sich aufbäumen und mich in eine andere Welt saugen würde.
    Aber stattdessen wurde der Bob jedes Mal langsamer. Er hielt holpernd und knirschend an und ich stand auf, schüttelte das Eis von meinen Händen und meinem Jackenkragen und drehte mich um. Nun war Lena dran – langsamer, vorsichtiger, mit den Füßen im Schnee, um zu bremsen.
    Seltsamerweise träume ich im Sommer vor meinem Eingriff genau davon, während des letzten Sommers, den ich noch mal wirklich genießen kann. Ich träume vom Schlittenfahren. So ist es, auf den September zuzurasen, auf den Tag, an dem Amor deliria nervosa mich nicht länger belästigen wird.
    Es ist, wie mitten in schneidendem Wind auf einem Bob zu sitzen. Ich bin atemlos und
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