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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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explodieren, und die Lichtblitze, die sie aussandten, leuchteten in allen Farben des Spektrums.
    Mrs. Potter musste draußen gelauscht haben, denn sie trat genau in dem Augenblick in den Speiseraum, als Mr. Strykers Marian verkündete, sie könnte jetzt wieder in den Unterricht zurückgehen, das Gespräch wäre beendet.
    »Am Sonntag gegen drei Uhr wird Marian einen wichtigen Besuch erhalten«, hörte Marian ihn zu Mrs. Potter sagen, während sie selbst schon an der Tür war. »Ich hoffe, das Klavier im Salon ist gut gestimmt? Wenn nicht, dann empfehle ich Ihnen …«
    Sie schloss die Tür hinter sich und tat einen tiefen Atemzug, um das ungute Gefühl loszuwerden, das sie bei diesem Gespräch erfasst hatte. Wenn ich doch nur schon volljährig wäre!, dachte sie. Dann könnte ich mir einfach eine Kutsche mieten und nach Hause fahren. Wie mag es dort oben in Maygarden wohl aussehen? Bestimmt haben die Angestellten alles verkommen lassen. Ach, es ist so ärgerlich, noch drei lange Jahre warten zu müssen und dabei von diesem widerlichen Kerl abhängig zu sein!
    Sie hatte keine Eile, zurück in den Unterrichtsraum zu gelangen, sondern schlenderte gemächlich den Flur entlang und dachte dabei sehnsüchtig an den einsamen Landsitz in Yorkshire. Durch die Flurfenster fielen jetzt die Sonnenstrahlen in breiten glitzernden Streifen in den dämmrigen Flur, und schließlich blieb Marian stehen, um einen Blick in den Garten zu werfen.
    Ein zauberhaftes friedliches Bild bot sich ihr. Die Apfelblüten schimmerten in der Morgensonne, als wären die weißen Blütenblättchen mit Silberstaub bestreut. Im hellgrünen Gezweig der Johannisbeerbüsche hatte sich ein Schwarm Sperlinge niedergelassen, zwei Amselmännchen mit blau schimmerndem schwarzen Gefieder wühlten hinten im Kartoffelacker herum. Liebevoll ließ Marian den Blick über die alten Bäume gleiten, die sie an den verwilderten Park von Maygarden erinnerten. Wie knorrig die Eichen gewachsen waren! Sie schienen wie alte kampferprobte Krieger, die sich im Frühling mit zartgrünem Mailaub angetan hatten. Sie warfen bizarre Schatten über das schmale Wiesenstück, das sich an den Kartoffelacker anschloss und vor Jahren einmal eine gepflegte Rasenfläche gewesen war. Marian wollte sich schon vom Fenster abwenden, da bemerkte sie eine Bewegung in den Schattengebilden und sie glaubte zuerst, ein Windstoß habe die Baumkrone der Eiche geschüttelt. Doch der alte Baum stand bewegungslos in der Morgensonne, kein Lüftchen ging, kein Blättchen rührte sich.
    Der Schatten auf der Wiese krümmte sich zusammen, formte sich zu einer Gestalt und glitt zum Eichenstamm hinüber. Marians Herz klopfte plötzlich so heftig, dass sie sich am Fensterbrett festhalten musste. Da stand er – und dieses Mal handelte es sich nicht um einen Traum. Der Fremde lehnte ruhig an dem knorrigen Stamm der Eiche, dunkel wie ein Schatten und doch für Marians scharfe Augen nur allzu deutlich erkennbar. Der lächerliche Gehrock, der ihm fast bis zu den Knien reichte. Das Halstuch aus nachtblauem Stoff, schmale graue Beinkleider, halbhohe Stiefel aus Leder. Er hatte den Kopf zurückgelegt, als dächte er über etwas nach, und tatsächlich glaubte sie zu erkennen, dass seine Augen geschlossen waren. Sein Mund stand ein wenig offen, und seine Lippen waren voller, als sie es in Erinnerung gehabt hatte. Eine Verlockung, die ihr bisher fremd gewesen war, ging von diesem Anblick aus. Sie glaubte, plötzlich ein Brennen auf ihren eigenen Lippen zu spüren, als hätte ein glühendes Eisen sie berührt.
    Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie am Fenster gestanden und die Erscheinung angestarrt hatte. Vielleicht zog die Wolke schon nach wenigen Sekunden vor die Sonne, vielleicht aber auch erst nach einer halben Stunde – wer konnte das wissen? Doch als die Sonnenstrahlen die Erde nicht mehr erreichten, vergingen auch die Schatten, und die Erscheinung löste sich auf.

Kapitel 3
    Er grüßte die Nacht mit einem leisen dunklen Summen, das tief aus seiner Brust drang und die Umgebung mit Wärme erfüllte. Es war angenehm, den Schatten der feuchten Mauer endlich verlassen zu können, aus dem schmalen Streifen Dunkelheit, in den er sich verkrochen hatte, zu voller Größe und Gestalt emporzuwachsen und die Glieder zu recken. Die letzten Stunden des Tages waren eine Qual für ihn gewesen, was er jedoch seiner eigenen Dummheit zurechnen musste, denn er hätte diesen Ort längst im Schutz der Morgennebel verlassen können. So
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