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Gesang der Daemmerung

Gesang der Daemmerung

Titel: Gesang der Daemmerung
Autoren: Megan MacFadden
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als ihr Vormund für sie verwaltete, dazu ein Landgut. Damit war sie im Vergleich zu vielen anderen Mädchen hier im Pensionat sehr gut gestellt. Wenn sie volljährig war – also in drei Jahren –, würde sie ihr Vermögen selbst verwalten, das hatte sie sich fest vorgenommen. Es sei denn, sie war bis dahin verheiratet, dann – so war es von Gesetzes wegen geregelt – würde ihr Ehemann über ihren Besitz verfügen. Wieso glaubte Strykers, sie könnte eines Tages so arm sein, dass sie ihren Lebensunterhalt mit Musikunterricht verdienen musste?
    »Aber meine verstorbene Mutter hat mir das Singen verboten, Mr. Strykers«, wandte sie ein, froh, dass ihr das noch eingefallen war.
    Er schüttelte unwillig den Kopf, wobei seine schlaffen Wangen hin und her wabbelten. Das wäre purer Unsinn, meinte er. Sie hätte eine sehr schöne Stimme, das wäre bereits aufgefallen.
    »Vor einigen Tagen sprach ein gewisser Sereno bei mir vor. Ein Professor für Belcanto, natürlich italienischer Herkunft, aber er unterhält hier in London eine Schule für Gesangskunst. Ich habe mich erkundigt – er ist kein Unbekannter und hat schon einige junge Talente ausgebildet, die später sogar auf der Bühne und im Konzertsaal zu Ruhm und Ehre kamen …«
    Marian starrte ihren Vormund ungläubig an. Was erzählte er ihr denn da für Märchen? Woher sollte dieser geheimnisvolle Professor wissen, dass sie, Marian, eine schöne Stimme hatte? Sie kannte ihn ja gar nicht!
    Strykers hatte ihre Zweifel erraten und bemühte sich, sie zu zerstreuen. Mr. Sereno hätte Sonntag vor zwei Wochen in der Kirche St. Jacob die Messe besucht, weil eine seiner Schülerinnen dort eine Kirchenarie vortrug. Bei dieser Gelegenheit hätte er Marians Stimme gehört, die – so hätte er sich ausgedrückt – beim Singen der Choräle wie flüssiges Silber aus den Stimmen der anderen Pensionatszöglinge herausstach.
    »Er wird am Sonntag vorbeikommen, Marian, und ich wünsche, dass du ihm vorsingst!«
    Das klang wie ein Befehl. Auch der Ausdruck seiner blassgrauen Augen hatte sich gewandelt, alle Begehrlichkeit war daraus verschwunden. Stattdessen entdeckte Marian dort eine seltsame Hast, die ihr verdächtig vorkam. Ihr Vater hatte diesem Mann vertraut, ihn bei Rechtsangelegenheiten als Anwalt und Notar herangezogen, in seinem Testament hatte er Strykers zum Vormund seiner Tochter bestimmt. Aber ihr Vater war ein weltfremder, liebenswerter Einzelgänger gewesen – konnte es sein, dass er sich in Strykers getäuscht hatte?
    »Ich werde nicht singen, Mr. Strykers!«, erwiderte sie entschlossen und hob den Kopf, um seinem Blick zu begegnen. »Ich habe es meiner Mutter versprochen und werde mein Versprechen halten.«
    Strykers spürte, dass er keine Chance hatte. Dieses Mädchen benahm sich zwar meist wie ein scheues Reh, wenn sie jedoch zu etwas entschlossen war, konnte man ihr nur schwer beikommen.
    »Verdammt – weshalb bist du so stur, Mädel!«, seufzte er und sah bekümmert zu Boden. »Ich meine es wirklich gut mit dir. Es gibt nicht wenige junge Leute, die Leben und Seligkeit dafür geben würden, von Sereno unterrichtet zu werden. In Scharen belagern sie ihn, flehen ihn auf Knien an, versuchen, seine Angestellten zu bestechen – nur um ihm vorsingen zu dürfen. Und zu dir kommt er selbst gelaufen!«
    »Es tut mir leid, Mr. Strykers«, beharrte sie dickköpfig.
    Es ging ihr weniger um dieses Versprechen, das sie in Wirklichkeit gar nicht gegeben hatte. Ihre Mutter hatte sie tatsächlich einmal gebeten, niemals öffentlich zu singen – das war jedoch schon lange her, und Marian hatte es fast vergessen gehabt. Aber erstens hatte sie Lust, sich diesem ekelhaften Kerl zu widersetzen, und zweitens hegte sie den Verdacht, dass die ganze Geschichte von diesem großartigen italienischen Gesangsprofessor nur ein Schwindel war. Strykers verheimlichte ihr etwas, und so jung sie auch war, sie ahnte, dass es mit dem Vermögen zusammenhing, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte.
    Ihr Vormund nahm die Entschuldigung mürrisch zur Kenntnis und meinte nur, sie könnte ihre Entscheidung dem Professor am Sonntag ja selbst verkünden, er wäre nun einmal angesagt und würde gewiss auch kommen. Dann zog er zum zweiten Mal seine goldene Taschenuhr zurate, und als er das gute Stück wieder in die Westentasche zurücksteckte, hatte Marian Gelegenheit, die blitzenden Diamantsplitter zu bewundern, die auf dem Uhrendeckel eingesetzt waren. Sie schienen vor ihren Augen förmlich zu
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