Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
sich einem zuwenden, aber sie hatte selten den Nerv dazu. Sie traute niemandem, nur ihrem Instinkt, und dem auch nur bedingt. Für sie war jeder Morgen der Beginn einer neuen Gefahr. Und sie wollte sich nicht fürchten. Sie wollte stark sein, sie wollte, dass die anderen es waren, die sich fürchteten, und zwar vor ihr. Und zwar vor mir, ihr dämlichen Gaffer. Denkst du, du Krawattenarsch, du kannst mich haben, nein, das denkst du nicht, du hast ja null Ahnung, was denken ist, weisst du, was passiert, wenn du mich noch länger anglotzt, frag den Wichser vom Café Münchner Freiheit, der braucht jetzt einen Spitzenzahnarzt, sonst wird das nichts mehr da drin in seinem vorlauten Maul!
    Stumm und stolz stapfte sie mit ihren schweren, klackenden Schuhen an den vollbesetzten Tischen vorbei, verfolgt von hundert Blicken, begleitet von Geflüster und unüberhörbaren Kommentaren. Im Stillen übte sie ihren Auftritt und überlegte, welche CDs sie benötigte für ihre Tauschgeschäfte, die Musik interessierte sie nicht, nur das, was sie dafür bekam. Gerade als sie die amerikanische Eisdiele neben der Buchhandlung erreichte, knickten ihre Beine ein. Sie riss die Arme hoch und sackte zu Boden.
    Auf den Knien rutschte sie zur Hauswand, wie immer, und der finstere fürchterliche Geist packte und verschluckte sie. Und sie wollte etwas sagen, etwas rufen, sie wollte sich aufrichten und festhalten. Und sie wollte, dass die Leute verschwanden und sie in Ruhe ließen, in Ruhe sterben ließen. Wie ein Embryo krümmte sie sich, drückte den Kopf zwischen die Knie, versteckte sich unter den Armen, die sie über sich hielt, als könne sie so den Horror daran hindern, in sie zu fahren und sie auszuhöhlen.
    Der Boden, auf dem sie hockte, fühlte sich an wie Sand, der unter ihr wegsackte und vielleicht ins Innere der Erde sickerte und sie mitriss. Und begrub. Im elendsten Grab der Welt, in namenloser Vergessenheit.
    Aber ich bin doch wer, hörte sie eine Stimme, ich bin doch auch wer, so wie ihr, so wie ihr.
    Kälte kletterte an ihr hoch wie eine Krake, von den Zehen unter den Stahlkappen bis zu den blinkenden Perlen ihrer Haare. Den Rücken gekrümmt, drückte sie sich an die Hauswand, zwischen zwei Fahrrädern, die zwei blonden, braun gebrannten jungen Frauen gehörten, die ratlos im Angesicht des wimmernden Mädchens ihr Eis schleckten und erst mal ihre Ray-Ban-Brillen aufsetzten und abwarteten. Passanten blieben stehen, schauten hin, schauten weg, gingen weiter. Andere beugten sich vor, horchten, nickten, weil sie Geräusche hörten und den Körper zucken sahen, und fingen an, miteinander zu reden.
    »A Junkie, des Übliche.«
    »Die ist doch höchstens zwölf.«
    »Die schaut bloß so jung aus.«
    »Die kenn ich.«
    »Geh weida!«
    »Die kenn ich.«
    »Wen?«
    »Die da.«
    »Und? Wer ist die?«
    »Weiß ich nicht. Aber ich kenn die.«
    »A Junkie halt, selber schuld. Wissen Sie, wie viel Drogensüchtige es in dieser Stadt gibt? Zwanzigtausend! Und alle unter achtzehn. Zwanzigtausend. Mindestens. Lauter Gschwerl, die ghören alle nach Berlin oder nach Hamburg.«
    »Das ist doch Unsinn, was Sie da reden!«
    »Liebe Frau, was verstehen Sie von dem? Ich kenn mi aus, ich wohn da vorn, Giselastraß. Lauter Junkies. Mitten aufm Bürgersteig. Gehens doch vor, schauen Sie sichs an.«
    »Ja. Und?«
    »Ich bin kein Sozialarbeiter, gute Frau, ich find diese jungen Leut unangenehm und schädlich. Und schädlich.«
    »Die schaden doch niemandem.«
    »Ich kenn die. Das ist doch die aus der Zeitung.«
    »Genau! Die von dem Schwarzen.«
    »Die is selber schwarz, da schau! A Negerin!«
    »Halten Sie doch den Mund.«
    »Was isn los mit der?«
    »Die ist drogensüchtig, sengS des net?«
    »Jemand muss den Notarzt holen.«
    »Für die? Für die an Notarzt? Wirklich net! Des ist doch sinnlos! Morgen hockt die wieder da. So sind die. Fürn Notarzt gibts wichtigere Leut, net solche, dies net verdient ham.«
    »Sie sind ein Arschloch.«
    »Was? Was? SagenS des nochmal! Los, sagenS des nochmal! Was bin i? Was bin i?«
    » Maul halten, ihr blöden Ärsche! «
    Unbemerkt von den Umstehenden hatte Lucy sich aufgerichtet und hingekniet. Die Hände in den Jackentaschen, sah sie jedem ins Gesicht und jedes einzelne Gesicht beleidigte ihren Schmerz.
    Von dem Entsetzen, das sie heimgesucht hatte und dem sie zu ihrem Erstaunen wieder einmal im letzten Moment entkommen war, hatten die Gaffer alle keine Ahnung. Dass ich hier bin, ist bloß Spott für euch und dafür hass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher