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German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
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aufgoss. »Machst du mir eine Fußmassage? Ich brauch dringend Zärtlichkeit.«
    »Klar«, sagte Ines. »Ich hab gleich gemerkt, dass du total verschwurbelt bist.«
    Plötzlich fiel wieder dieser Schatten auf sie und drang in sie ein und verdunkelte die Welt in ihr. Und wie jedes Mal glaubte sie, sie würde verschwinden und sich auflösen wie die Nacht am Morgen oder lautlos in einen Abgrund stürzen, tausende von Metern tief.
    Die Leute gafften sie an. Sie sah sie gaffen und war unfähig, ihnen ihr Gaffen mit einem gezielten Schlag auf die Nasenwurzel zu vergällen. Alles, was sie tun konnte, war sich auf den Boden zu setzen, mitten auf den Bürgersteig, die Hände über den Kopf zu legen und sich so tief wie möglich zu ducken. Das war das Letzte, was sie wollte, und doch war es das Einzige, wozu sie in solchen Momenten in der Lage war. Und immer glaubte sie, sie würde sterben. Jetzt sterb ich, jetzt sterb ich und alle glotzen mich an und ich hab mich nicht mal von Papa verabschiedet.
    Wenn der Schatten kam, kehrte Lucy Arano in eine Zeit zurück, in der sie auf dem Schoß ihres Vaters saß und er Geschichten aus seiner Heimat erzählte. Und ihre Mutter in einem roten, mit gelben Federn bestickten Kleid kochte Pfeffersuppe mit Hühnerfleisch und beim Essen schwitzten alle unheimlich.
    Wenn der Schatten kam, unerwartet und unausweichlich, empfand Lucy Todesangst und Glück zugleich. Je mehr sie sich zusammenkauerte und je fester sie die Beine an den Körper presste und die Hände auf den Kopf drückte und den Nacken beugte, bis er wehtat, desto deutlicher sah sie das Zimmer mit den Holzfiguren, die ihr Vater geschnitzt hatte, und die farbenprächtigen Ketten und Gewänder ihrer Mutter. Das alles erschien ihr wie ein Film, der in rasender Geschwindigkeit vor ihr ablief, während sie kopfüber in die Hölle stürzte. Wie in einem bösen Traum versuchte sie zu schreien und sich festzuhalten. Aber sie hatte keine Stimme mehr. Und die Dinge um sie herum waren nicht wirklich, sondern aus bemalter Luft.
    Ihr war übel und ihr war kalt. Gerade hatte sie noch einen genauen Plan gehabt, wie sie in den Laden reingehen, sich lässig umschauen, ein paar Bücher durchblättern und dann in den ersten Stock zu den günstigen CDs hinaufschlendern wollte. Praktisch an diesen Buchhandlungen fand Lucy, dass die Frauen, die dort arbeiteten, tierisch verständnisvoll waren und offensichtlich besonders auf Jugendliche abfuhren, die sich für kulturelles Zeug interessierten, für Romane und Musik, und auch noch superschlaue Fragen stellten. Lucys Lieblingsfrage lautete: »Und wo ist die aktuelle Relevanz dieses Buches?« Damit erntete sie oft Staunen, manchmal Bewunderung. Und niemand bemerkte die Scheiben, die sie in ihrer Bomberjacke gebunkert hatte, zwischen den zwei dünnen Metallplatten, die die Signalschranke am Ausgang außer Kraft setzten. In ihrem blauen dicken Daunenpanzer befanden sich eine Menge lebenswichtiger Dinge, die sie täglich brauchte, um sich durchzusetzen. Wenn sie an den Cafétischen entlang der Leopoldstraße vorüberging, schauten ihr Männer genauso nach wie Frauen und sie erwiderte die Blicke mit dem Lächeln einer Fürstin. Sie hatte schwarzes krauses Haar mit zwei Zöpfen rechts und links, an denen bunte Steine und Ringe baumelten. Ihr Hals war kaum zu sehen vor lauter grünen, roten, gelben und weißen Ketten voller bunter Perlen und Kugeln aus Glas und Holz. An jedem Finger trug sie einen Ring, bizarre filigrane Kunstwerke, Geschenke ihrer Verehrer vom Flohmarkt an der Arnulfstraße. Die Nägel ihrer rechten Hand waren schwarz lackiert, die der linken blau. Auf ihrer roten ausgebleichten Jeans klebten Stoffwappen verschiedener Länder und ihre schwarzen schweren Schuhe hatten Stahlkappen, die in der Sonne glänzten. Sie war groß und stämmig für ihr Alter und wer ihr in die Augen sah, tauchte in ein schwarzes Feuer, das sie mit jedem ihrer Blicke noch mehr zu schüren schien. Wie eine Erscheinung starrten die Leute sie manchmal an und dann verlangsamte sie ihren Schritt, drehte sich um, als suche sie jemanden, lächelte oder machte einen Schmollmund oder leckte sich die schwarz umrandeten Lippen. Sie war sich ihrer Wirkung bewusst und es war nur ein Spiel für sie. Wer ihr zu nahe kam, hatte Pech. Denn das konnte bedeuten: Krankenhaus. Oder zumindest ein paar Tage daheim auf dem Sofa Prellungen kurieren.
    Nur wer ihre Bannmeile respektierte, hatte die Chance auf etwas Nähe und Kommunikation. Sie konnte
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