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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat
Autoren: André Theuriet
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nicht mehr zu erkennen; die Stadt ist trübselig, von den Einwohnern gar nicht zu reden, eingebildete Menschen ohne Lebensart. Wir haben mehr als vierzig Besuche gemacht, und man hat uns kaum zehn davon erwidert. Es ist auch dein Fehler ... Laheyrard.«
    »Mein Fehler!« sagte der alte Professor leise, »kann ich die Leute zwingen; zu mir zu kommen?«
    »Du hast es nicht verstanden, in Juvigny die richtige Stellung einzunehmen. Man gibt überall Diners; hast du auch nur einen einzigen Schritt gethan, damit deine Frau und Tochter eingeladen würden?«
    »Ich habe den Grundsatz, mich niemand aufzudrängen,« antwortete der brave Mann; »das erfordert die Würde.«
    »Das ist nur Egoismus! Sage doch lieber, daß du es vorziehst, dich mit deinen Büchern einzuschließen!«
    Herr Laheyrard erhob den Kopf und richtete seine müden, klugen Augen einen Augenblick fest auf seine Frau.
    »Melanie,« sagte er sanft, »du gehst zu weit. Wenn man uns in Juvigny vernachlässigt, so müßtest du dich erinnern, daß es vielleicht mehr dein als mein Fehler ist.«
    Frau Laheyrard biß sich auf die Lippen. Diese leise Anspielung auf ihre Jugend wirkte wie eine kalte Douche auf ihre nervöse Aufregung. Marius stopfte seine Pfeife und schickte sich mit ungeduldiger Miene an, den Abend auswärts zu beschließen. Der Schulrat flüchtete, um sich neuen Klagen zu entziehen, in den Garten. Helene deckte eilig den Tisch ab und suchte dann ihren Vater im Obstgarten auf.

Viertes Kapitel.
    Von der ganzen Familie verstand und liebte nur Helene ihren Vater. Sie sah ihn von den närrischen Ansprüchen Frau Laheyrards gequält, von Marius lächerlich gemacht; sie sah, wie ihm die jüngeren Kinder, denen man weder Gehorsam noch Achtung vor ihm eingeflößt hatte, kaum gehorchten. Trotzdem fühlte sie, daß er den übrigen Familienangehörigen an Herz wie an Geist weit überlegen war, und bemühte sich, ihn all dieses kleinliche, häusliche Elend durch ihre Zärtlichkeit vergessen zu machen. Sie interessierte sich für seine Arbeiten; er dagegen ermunterte sie in ihren Malstudien. Wenn er seiner Bücher müde war, erheiterte sie ihn durch ihre neckischen Einfälle. Für Herrn Laheyrard war inmitten seiner vielen Verwaltungsgeschäfte die Heiterkeit Helenens das, was der Gesang eines Rotkehlchens an einem trüben Wintermorgen ist. Diesen Abend wandelten sie lange Arm in Arm in den grasbewachsenen Wegen des Gartens auf und ab; dann küßte der alte Professor seine Tochter auf die Stirne und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, während Helene die Kinder suchte, um sie ins Bett zu schaffen.
    Als sie, müde von dem Gezanke der Kinder, wieder herunterkam, war die rastlose Frau Laheyrard in die Stadtgegangen, um Besorgungen zu machen. Helene zog sich in ein großes, an den Garten stoßendes Gemach zurück, das sie sich zum Atelier eingerichtet hatte. Rings an den Wänden waren Studien aufgehängt, in einer Ecke stand neben dem mit Noten bedeckten Klavier eine Staffelei; auf einem Seitentischchen prangte in einem Steinguttopf ein großer Feldblumenstrauß. Der erste Blick des jungen Mädchens siel auf den Abdruck der fünf kleinen Finger Tonis auf der Leinwand, auf der eine Landschaft eben erst entworfen worden war. Helene stampfte zornig mit dem Fuß. »Elende Wirtschaft!« rief sie und setzte sich dann in sehr schlechter Stimmung auf die steinernen Stufen, die in den Garten führten. Die Ellbogen auf die Kniee gestützt, die Hände in den Haaren vergraben, ließ sie ihre trüben Blicke über die von dem letzten Tagesschimmer rosig angehauchte Schlucht von Polval schweifen. Juvigny drückte sie nieder. In Paris geboren, Pariserin bis zur Spitze ihrer rosigen Finger, konnte sie sich an diese scheinheilige Ruhe, an diese engen Gesichtskreise, an die kleinlichen Interessen des Landstädtchens nicht gewöhnen. Das Leben in der Provinz kam ihr vor wie ein zu langer Besuch bei langweiligen Menschen in einem dumpfig und schimmelig riechenden Haus. Von weitem, aus der Vorstadt herüber drang der näselnde Ton einer Drehorgel, auf der eine Melodie gespielt wurde, die sie sich erinnerte, voriges Jahr in einem der Boulevardtheater gehört zu haben. Alle Eindrücke ihres Pariser Lebens stürmten der Reihe nach auf sie ein. Sie erinnerte sich ihrer Altane im vierten Stock eines Hauses in der Assasstraße, des Luxemburggartens, des Ballspieles und der Spieler in den weiß und roten Jacken, der Orangenbäume, die in Kübeln auf der Terrasse aufgestellt waren, auf der
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