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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat
Autoren: André Theuriet
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durch das dieser ehrbaren Witwe gehen, was ihn nötigte, stets früh nach Hause zu kommen, und jeden nächtlichen Ausgang unmöglich machte. Man wird begreiflich finden, daß der junge Mann unter diesen Umständen seine Studien nicht sehr in die Länge zog. Nachdem er Schlag auf Schlag seine vier Prüfungen bestanden, hatte er kürzlich doktoriert und war nun seit kaum vierzehn Tagen nach Juvigny zurückgekehrt. Trotz dieser klösterlichen Erziehung war Gérard durch und durch weltlich gesinnt und trug sehr schwer an seiner Tugend. Man kann seine Neigungen so wenig ändern als sein Temperament, und der junge Seigneulles fühlte sich von den Freuden dieser Welt stark angezogen. Er war heißblütig und neugierig und hatte sich vorgenommen, die Vergnügungen, die man ihm so lange vorenthalten, in vollen Zügen zu genießen, sobald sie ihmzugänglich werden würden. Unglücklicherweise mußte er vom ersten Tag seiner Rückkehr an seine Erwartungen niedriger spannen, denn obwohl Juvigny der Sitz einer kleinen Präfektur war, bot es doch keinen Ueberfluß an Zerstreuungen, und auch das Leben, das man bei Herrn von Seigneulles führte, hatte nichts Verlockendes für einen Jüngling, der seine dreiundzwanzig Jahre so gerne genossen hätte. Der Chevalier sah niemanden bei sich, als den Geistlichen seiner Pfarre und zwei oder drei biedere Edelleute aus dem Orte. Wohl gewährte er seinem Sohne nun ein wenig mehr Freiheit, allein er gab ihm nicht die Mittel, dieselbe zu benutzen; dazu kam auch noch der Umstand, daß sich Gérard in der Gesellschaft der jungen Leute von Juvigny, mit denen er weder Sprache noch Sitten gemein hatte, fremd und linkisch fühlte.
    Und doch wollte er so gerne leben. Ungeduldige Erwartungen machten sich geltend und schwellten sein Herz. Feurig, den Kopf voller Wünsche und den Körper voll Kraft, sagte er sich, daß jede Stunde dieses trübseligen Daseins seiner Jugend gestohlen werde, und während er sich in seiner Einsamkeit herumtrieb wie ein Eichhörnchen in seinem Käfig, gähnte er vor Langeweile und Mattigkeit. Erst gestern hatte ihn noch Regina Lecomte, eine junge Arbeiterin, die von Marie im Taglohn beschäftigt wurde, in dieser Stimmung überrascht, als er in dem väterlichen Garten spazieren ging, die Arme reckte und streckte und sich fast die Kinnbacken ausrenkte. Das lebhafte und gefallsüchtige Mädchen hatte ihn verstohlen beobachtet, während sie Wäsche von der Wiese aufnahm.
    »Herr Gérard,« sagte sie plötzlich zu ihm, »Sie sehen aus, als ob Sie sich rechtschaffen langweilten!«
    »Es ist wahr,« antwortete er errötend, »die Tage werden mir recht lange.«
    »Weil Sie sie nicht durch Vergnügen auszufüllen verstehen. Warum kommen Sie denn Sonntags nie zum ›Weidenball‹?«
    »Zum Ball,« flüsterte Gérard, der fürchtete, sein Vater könne ihn hören.
    »Ja, wie alle die jungen Herren. Man könnte glauben, Sie verschmähten die Bälle von uns Arbeiterinnen aus Stolz.«
    »Da würde man mir unrecht thun,« entgegnete er, »wenn ich nicht hingehe, so kommt dies nur daher, daß ich niemanden dort kenne.«
    »Bah, es wird Ihnen nicht an Tänzerinnen fehlen; wenn Sie morgen kommen, so verspreche ich Ihnen einen Kontertanz.«
    Während sie so plauderte, nahm die kleine Regina ihre Wäsche auf, und die Mittagssonne beleuchtete die lachenden Augen, das Stumpfnäschen und die blitzenden Zähne.
    Sie entfernte sich, den jungen Mann auf eine Weise anlächelnd, die ihn nachdenklich machte.
    Seit dem frühen Morgen hatte er sich hin und her überlegt, wie er sich fortstehlen und an dem Ball teilnehmen könnte, und hatte sorgfältig die Lockungen der verbotenen Frucht und den drohenden, väterlichen Grimm gegeneinander abgewogen.
    Ein an den freien Genuß seiner Jugend gewöhnter Pariser hätte über diese Aufregung wegen eines Arbeiterinnenballes gelächelt, aber für Gérard, der wie ein Mädchen erzogen worden war und nur selten ein Vergnügen gekostet hatte, besaß dieser Ball den ganzen geheimnisvollen Zauber einer zum erstenmal begangenen Sünde. Die Gartenwirtschaft war für ihn ein verschlossenes Paradies voll lockender, unbekannter Genüsse. Die plötzlich lauter ertönende Tanzmusik besiegte seine letzten Bedenken. Es war keine Möglichkeit, durch die Thüre, zu der Marie den Schlüssel mit sich genommen hatte, hinauszukommen, und so kletterte Gérard auf die Mauer, sprang leicht auf die weiche Erde des Weinberges hinab, glitt behutsam durch die Reben und schritt eine
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