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Gérards Heirat

Titel: Gérards Heirat
Autoren: André Theuriet
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farbenreicher Worte an Stelle der Empfindung und des Gedankens treten sollte.
    »Sehen Sie,« rief er mit stolzer Miene.
    »Wir, die wir Worte schmieden wie das harte Erz,
    wir brauchen die Begeisterung nicht mehr, die in einer Nacht die Gedichte wachsen läßt wie den Löwenzahn auf den Wiesen, wir brauchen Lampenlicht, unerhörte Anstrengung und unvergleichliche Seelenkämpfe.«
    Gérard machte große Augen.
    Um seine Vorschriften durch Beispiele anschaulicher zu machen, begann Marius in den nächtlichen Straßen Sonette herzusagen, in denen nur von fahlen Jahrhunderten, von dunklen Schrecknissen und von milden Sehnsuchtsschmerzen die Rede war; die untergehende Sonne wurde mit einem mit Wein beschmierten Trunkenbold, und die Sterne mit Goldfischen, die in einer himmelblauen Glaskugel schwimmen, verglichen ... Nachdem er eine gute Viertelstunde lang deklamiert hatte, blieb der Dichter stehen, um seine Pfeife zu stopfen und anzuzünden. Beim Flackern des Streichholzes betrachtete Gérard das lustige, pausbäckige Vollmondsgesicht Marius', seine breiten Schultern, seine stämmige Gestalt, und er wunderte sich, daß dieser Rabelaissche. Kopf, der ihn an Bruder Jean, den Begleiter Gargantuas erinnerte, solch düstere, totentanzartige Gedichte hatte hervorbringen können.
    »Ich bin so trocken wie die Wüste Sahara,« rief Laheyrard und schnalzte mit der Zunge, »es ist ein Jammer, daß schon alle Wirtshäuser geschlossen sind ...«
    Damit wechselte er den Gegenstand des Gespräches, kehrte wieder zur Wirklichkeit zurück und rühmte die guten Eigenschaften des Märzenbieres, ging von der Aesthetik zur Gastronomie über und begann in epischem Stil die üppigen Mahlzeiten zu verherrlichen, die man in Juvigny zu sich nehme. Marius' Wesen zeigte eine solche Mischung von sonderbarer Geziertheit und Kinderei, von gutmütigem Frohsinn und gekünstelter Überspanntheit, daß Gérard sich fragte, ob er es mit einem Narren oder mit einem Spaßvogel zu thun habe. Wahrend ihres Geplauders waren sie in der Straße angelangt, in der sie beide wohnten. Marius zog einen riesigen Hausschlüssel aus der Tasche.
    »Das ist das zierliche Schlüsselchen, das mir die väterliche Burg erschließt, aber ich will Sie zuerst bis an Ihre Thüre begleiten.«
    O, das ist nicht nötig! ich – ich habe nämlich keinen Hausschlüssel,« stotterte Gérard verlegen, »und ich möchte meinen Vater nicht gern aufwecken.« Er erzählte nun, wie er über die Gartenmauer gesprungen war.
    Marius schüttelte sich vor Lachen.
    »Ach, ach,« sagte er und hielt sich die Seiten, »die schwarzen Handschuhe, Ihr verschämtes Tanzen und die Umstände, die Sie mit der kleinen Regina machten, das erklärt sich nun alles ... Sie sind ein guter junger Mann, und ich hoffe, daß wir uns wiedersehen werden. Erklimmen Sie Ihre Mauer wieder, mein Freund und schlafen Sie wohl!«
    Er trat pfeifend in das Haus. Gérard bog um die Ecke der Straße, stieg durch die Weinberge hinauf und begann die Terrasse zu erklettern. Dank den alten bemoosten Spalieren, die eine natürliche Leiter bildeten, langte er gesund und wohlbehalten oben auf der Mauer an; er saß noch rittlings auf derselben, als ihm eine spöttische Stimme»Bravo!« zurief, und als er den Kopf erhob, entdeckte er den Dichter, der rauchend auf einem Baume im Nachbarsgarten saß. Das Schlimmste war überstanden. Vorsichtig trat Gérard in die Hausflur und schlich auf den Fußspitzen die Treppe hinauf. Schon hatte er das Stockwerk erreicht, in dem seines Vaters Zimmer lag, schon glaubte er sich in Sicherheit, als er sich unglücklicherweise in der Dunkelheit an einem Möbel stieß. In demselben Augenblick öffnete sich die Thüre des Zimmers und Herr von Seigneulles erschien, in ein Flanellgewand gehüllt, eine Kerze in der Hand, auf der Schwelle.
    »Donnerwetter! Bursche!« rief er, »hältst du mein Haus für ein Wirtshaus? Ich dulde nicht, daß meine Thüren länger als bis zehn Uhr offen bleiben. Du solltest das wissen ...« Und als Gérard sich zu rechtfertigen suchte, fügte er strenge hinzu: »Genug, mach', daß du zu Bette kommst, du kannst morgen deine Entschuldigungen vorbringen.«

Zweites Kapitel
    Am anderen Morgen – es war ein Rasiertag – saß der Herr von Seigneulles in einem mit Leder bezogenen Lehnsessel mitten in seiner Küche zwischen seiner Dienerin Marie und seinem Barbier Magdelinat. Marie hatte ein helles Holzfeuer angezündet, um das zum Seifenschaum bestimmte Wasser etwas zu erwärmen, und die
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