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George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika

George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika

Titel: George Soros: Gedanken und Lösungsvorschläge zum Finanzchaos in Europa und Amerika
Autoren: George Soros , Steve Clemons
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stehen, an der sie beteiligt sind. Auf der einen Seite versuchen sie, die Situation zu verstehen – ich bezeichne das als kognitive Funktion. Auf der anderen Seite versuchen sie, Einfluss auf die Situation zu nehmen. Das bezeichne ich als kausative oder manipulative Funktion. Diese beiden Funktionen verbinden denkende und handelnde Subjekte in entgegengesetzten Richtungen mit ihren Situationen. Wenn beide Funktionen gleichzeitig wirksam sind, können sie eine zirkuläre Beziehung oder eine Rückkopplungsschleife bilden. Ich bezeichne das als Reflexivität in Form einer Rückkopplungsschleife.
    Reflexivität wirkt störend auf die beiden Funktionen ein, aus denen sie besteht. Wenn keine Reflexivität vorliegt, besitzt jede Funktion eine unabhängige Variable. Bei der Betrachtung der kognitiven Funktion geht man davon aus, dass die Situation die unabhängige Variable ist, die die Ansichten der Teilnehmer bestimmt. Bei der kausativen Funktion gelten die Ansichten des Teilnehmers als unabhängige Variable, die sein Handeln bestimmt. Wenn jedoch beide Funktionen gleichzeitig wirken, besitzt keine der beiden Funktionen eine wirklich unabhängige Variable. Dadurch wird sowohl in die Ansichten des Teilnehmers als auch in den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse ein Element der Ungewissheit oder Unbestimmtheit eingeführt, das nicht vorhanden wäre, wenn die beiden Funktionen unabhängig voneinander wirken würden. Dadurch entstehen eine Divergenz zwischen den Ansichten der Teilnehmer und dem Istzustand sowie eine mangelhafte Entsprechung zwischen den Absichten der Teilnehmer und dem Ergebnis ihrer Handlungen.
    Dabei ist zu betonen, dass die Reflexivität nicht die einzige Quelle von Ungewissheit ist. Die handelnden Subjekte gründen ihre Entscheidungen noch aus anderen Gründen auf ein unvollkommenes Verständnis der Wirklichkeit. Die Reflexivität ist eng mit unvollkommener Kenntnis und Fehlbarkeit verbunden. Diese beiden Begriffe sehen zwar wie Zwillinge aus, aber man muss die Fehlbarkeit als logisch vorrangig betrachten. Wenn die Menschen auf der Basis perfekter Kenntnis handeln würden, wären ihre Ansichten mit der Wirklichkeit identisch und die Reflexivität wäre keine Quelle der Ungewissheit, weder in den Ansichten der Teilnehmer noch im tatsächlichen Ereignisverlauf. Infolgedessen kann es ohne Fehlbarkeit keine Reflexivität geben, aber denkende Subjekte sind auch dann fehlbar, wenn keine Reflexivität vorliegt.
    Die Fehlbarkeit wird zwar allgemein anerkannt, aber die Reflexivität bekommt nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Das mag an der Tatsache liegen, dass die Reflexivität zwei unterschiedliche Bereiche miteinander verbindet, nämlich die Kognition und das Kausalitätsprinzip. Die Menschen streben in allen Bereichen nach Vollkommenheit und neigen dazu, Quellen der Unsicherheit zu vernachlässigen oder zu verdrängen. Das ist nirgends offensichtlicher als an den Finanzmärkten. Die Wirtschaftstheorie beharrt auf einer Interpretation der Finanzmärkte, welche die Reflexivität bewusst ignoriert.
    Ich habe meinen konzeptuellen Rahmen in meiner Studienzeit unter dem starken Einfluss des in Österreich geborenen Philosophen Karl Popper entwickelt, der in meinem letzten Studienjahr an der London School of Economics mein Mentor wurde. Als ich an den Finanzmärkten tätig wurde, war es ganz natürlich, dass ich sie in ein Labor für die Überprüfung meiner Ideen verwandelte. Das erwies sich als sehr glückliche Entscheidung. Die Finanzmärkte stellen zwar nur ein schmales Segment der Wirklichkeit dar, aber sie besitzen einige Eigenschaften, dank deren sie als Labor besonders gut geeignet sind. Sie funktionieren auf eine relativ transparente Weise und sie produzieren eine Menge quantitativer Daten. Doch vor allen Dingen nehmen die Wirtschaftstheorien, mit denen die Funktionsweise der Finanzmärkte erklärt werden – nämlich die Theorie der Markteffizienz (EMH = Efficient Market Hypothesis) und die Theorie der rationalen Erwartungen – , die Fehlbarkeit und die Reflexivität dogmatisch aus ihrer Betrachtung aus. Infolgedessen gibt es sehr einflussreiche und weithin anerkannte Theorien, die ich falsifizieren konnte. Dadurch wurden die Finanzmärkte das Testgelände mit der größten praktischen Bedeutung, die ich mir hätte aussuchen können.
    Ich veröffentlichte meinen konzeptuellen Rahmen und seine Konsequenzen für die Finanzmärkte 1987 unter dem Titel „ Die Alchemie der Finanzen“. Ich wählte
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