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Geliebter Boss

Geliebter Boss

Titel: Geliebter Boss
Autoren: Jo Hanns Roesler
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der Wirt, der sie beobachtet hat.
    »Ich fühle mich heute nicht recht wohl«, sagt Birke.
    Sie bezahlt ihr Essen, einen Apfelsaft und ein Brot und verläßt die Gaststätte.
    Es ist vier Uhr nachmittags. Der Tagesdienst geht langsam zu Ende, Punkt fünf Uhr schließen die Banken. Es ist in diesen Sommermonaten wenig zu tun. Die meisten Kunden sind verreist, die großen Firmen unternehmen um diese Zeit nichts Entscheidendes, nur am Wechselschalter geht es ein wenig lebhafter zu.
    Birke wird mit ihrer Arbeit leicht fertig. Die Unsicherheit ist noch nicht von ihr gewichen. Gott sei Dank hat sie keine Zeit, darüber nachzudenken. Einige Kontenauszüge müssen noch fertiggestellt werden und mit der heutigen Abendpost hinausgehen. In diesem Augenblick, es ist zwanzig Minuten nach vier, läutet das Telefon auf ihrem Tisch.
    Birke hebt den Hörer ab. Meldet sich.
    »Buchhaltung.«
    Eine fremde Stimme fragt:
    »Fräulein Schulz?«
    »Ja.«
    »Der neue Präsident der Bank verlangt Sie zu sprechen.«
    »Danke. Ich komme.«
    Jetzt ist es soweit.
    Die Stunde der Wahrheit ist gekommen.
    Birke packt ihre Arbeit zusammen. Sie weiß, sie wird nie wieder an diesen Tisch zurückkommen. Sie rückt ihre Schreibmaschine gerade, richtet die Bleistifte und Kugelschreiber in eine Linie, daneben die Schere, den Brieföffner. Dann steht sie auf. Ihre Knie zittern. Unwillkürlich nimmt sie ihr Diktatheft mit, das ist eine alte Gewohnheit.
    »Ich bin in der Direktion«, sagt sie zu ihrer Kollegin am Nebentisch.
    »In Ordnung!«
    Wie Birke hinaufkommt in den zweiten Stock, sie weiß es nicht. Sie geht wie durch ein Niemandsland, durch Glastüren, über einen nußholzgetäfelten Gang mit Stukkaturen an der Decke und Fotos an den Wänden, die zeigen, wie das Bankgebäude einmal nach dem großen Luftangriff ausgesehen hat. Sie ist noch nie in diesen oberen Teil der Bank gekommen, wo die Räume des Bankpräsidiums liegen. Sie findet durch ein schmales Messingschild die Tür, vor der es kein Anmeldezimmer gibt. Sie klopft an.
    »Herein!« ruft eine Stimme.
    Birke öffnet die Tür. Es ist ein großer, lichter Raum mit einem hohen Fenster, das die ganze Wand der Tür gegenüber einnimmt, nach Westen gelegen. Das Licht der untergehenden Sonne blendet Birke, sie erkennt lediglich einen großen Schreibtisch und einen Menschen dahinter. Es ist sonst niemand im Raum, und der Mann hinter dem Schreibtisch muß offenbar der neue Präsident sein. Sein Gesicht ist völlig mit weißen Bandagen verhüllt, man sieht von ihm nicht mehr als die Hälfte seines Mundes und durch kleine Schlitze ein wenig von seinen Augen.
    Birke ist in der Tür stehengeblieben.
    Der Mann hinter dem Schreibtisch sagt:
    »Wollen Sie, bitte, näher treten!«
    Birke geht näher auf den Schreibtisch zu, das Diktatheft in ihrer Hand.
    »Setzen Sie sich!«
    Birke setzt sich.
    »Ich hatte einen Autounfall«, sagt der Mann hinter dem Schreibtisch erklärend. Dann schlägt er einen Aktendeckel auf, blickt stumm hinein, es dauert mindestens eine Minute, dann fährt er fort:
    »Es handelt sich um einen sonderbaren Vorfall in unserer Bank, den ich gern aufgeklärt hätte.«
    Es ist eine strenge Stimme, die durch den Verband kommt. Birke hat das unbestimmte Empfinden, als habe sie diese Stimme schon einmal gehört, aber sie weiß genau, daß sie diesem Mann noch nie begegnet sein kann. Was hat auch eine einfache Angestellte mit dem Präsidenten einer Bank zu tun? Es liegen Welten dazwischen.
    »Ich habe Sie ohne Aufsehen hergebeten, um einen Fall aufzuklären, der sich am letzten Tag vor Ihrem Urlaub hier in der Bank ereignet hat«, sagt die Stimme. »Ich nehme an, Sie wissen, worum es sich handelt.«
    Birke schweigt.
    Sie bringt keinen Ton über ihre Lippen.
    »Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern, daß Ihnen am letzten Abend Herr Direktor Graßmann den Auftrag gab, einen größeren Barbetrag, nämlich 60 000 Mark, einem Kunden namens... namens...«
    Er blickt in seine Akten, sucht den Namen und fährt fort:
    »... namens Zanders nach Dienstschluß in das Regina-Palast-Hotel zu bringen.«
    »Ich erinnere mich«, sagt Birke.
    »Haben Sie diesen Auftrag ausgeführt?«
    »Nein«, anwortet Birke.
    Der Mann hinter dem Schreibtisch nickt.
    »Das ist uns bekannt. Sonderbar ist, daß der Kunde« — er blickt abermals in seine Akten — »Herr Zanders den Nichtempfang des Geldes nicht reklamiert hat. Er befand sich schon seit zwei Tagen nicht mehr im Hotel. Sie hätten ihn also gar nicht angetroffen,
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