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Geheimes Verlangen

Geheimes Verlangen

Titel: Geheimes Verlangen
Autoren: C Redfern
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Gesellschaft dieser Damen zu schätzen, ist ihnen dankbar, doch sie hat nichts mit ihnen gemein. Diese Frauen haben ein Monatsgehalt und einen Ehemann und Kinder, sie wandeln – anders als sie selbst – auf ausgetretenen Pfaden. Bisweilen beneidet sie solche Menschen, möchte glauben, dass sie wissen, was Glück bedeutet. Aber ob das stimmt? Sie wünscht, dass sie Flügel hätte, dass sie auf den Rand des Balkons springen und dort sitzen bleiben könnte – wie ein grässlicher Wasserspeier an einer gotischen Kathedrale, vor dem es die Menschen gruselt. Und dann würde sie den Blick über die Stadt schweifen lassen und wie die Flughunde auf laut schlagenden Flügeln davonfliegen. Sie hätte zu gern einen peitschenden Schwanz, Hörner, spitze Krallen, Fänge und eine blutrote gespaltene Zunge, das wölfische Gesicht eines Dämons.
    Er tritt in Begleitung anderer Gäste auf den Balkon hinaus, sie hört seine Stimme, wie jemand ihn beim Namen nennt, sein unverbindliches Lachen. Sie überlegt, ob seine Augen auf ihren Schultern ruhen, ob er ihre Isolation bemerkt und befremdlich findet. Es vergeht eine Minute, bevor er sich neben sie stellt. Ohne den Ausblick zu beachten, sagt er zu ihr: »Du bist sehr schön.« Und das ist wahr – manchmal ist sie wirklich sehr schön. »Komm mit.«
    Sie stellt ihr Glas beiseite und folgt ihm; sie fragt nicht, wohin sie gehen. Er führt sie durch die in Gruppen stehenden Gäste zu einer alten Tür, die nur von einem Backstein offen gehalten wird, in ein enges Treppenhaus mit einer Wendeltreppe. Er bedeutet ihr hinaufzusteigen, und sie gehorcht. Dabei kommt es ihm gar nicht in den Sinn, sie könnte vielleicht unter Höhenangst leiden. Die beiden steigen immer höher hinauf, sie voraus, er hinter ihr her, bleiben auf einem Zwischenpodest stehen, als ihnen einige andere Partygäste entgegenkommen, die sie grüßen. Hier oben ist die Treppe aus Metall, wird immer enger, erbebt unter ihren Schritten. Sie steigen einen Turm hinauf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass es hier einen Turm gibt, der sich auf der Rückseite des Balkons und des Partygeschehens in den Nachthimmel hinaufschraubt. Fast kommt es ihr vor, als ob ihr geliebter Mann – dieser Magier – aus seiner Hosentasche statt eines Blumenstraußes die wackeligen Überreste eines Märchens hervorgezaubert hätte. Sie steigt trotz der Dunkelheit rasch und entschlossen immer höher hinauf: Das einzige Licht spenden die Sterne, die durch die mittelalterlichen Fenster hereinfunkeln. Sie spürt, dass er unmittelbar hinter ihr geht, weiß, dass er sie auffängt, sollte sie stürzen, weiß: sie wird nicht stürzen.
    Oben im Turm befindet sich ein sechseckiger Raum mit einem Lattenfußboden und mehreren Spitzbogenfenstern; in den braunen Natursteinwänden sind zahllose Risse und winzige Löcher zu erkennen. Sie tritt an eines der Fenster und blickt auf die nächtliche Stadt hinunter, sieht die unzähligen Lichter in winzigen Hochhausbüros, blinkende, zuckende Neonreklamen, Lichtkreationen in allen Farben und Designs. Dort unten sind Trottoirs mit festlich gekleideten Fußgängern zu erkennen, Kreuzungen großer Straßen, die selbst so spätabends noch belebt sind. Sie sieht Autos, einen heftigen Streit, einen Zug, der sich in der Ferne dahinschlängelt. Sie sieht in die Höhe ragende Wohnblöcke, das Blinken eines Flugzeugwarnlichts. An diesen Ausblick haben die Erbauer dieses merkwürdigen alten Turmes nicht mal im Traum gedacht. Hier oben in luftiger Höhe ist von dem Straßen- und dem Partylärm nichts mehr zu hören – ein Sturz wäre tödlich. Sie fragt sich, ob dieses Schicksal wohl einen der Bauarbeiter ereilt hat. Stille, Zinnen, Mondlicht, ein Kuss: ein Märchen. Sie fragt: »Welches Märchen hast du am liebsten?«
    Er steht hinter ihr, blickt ihr über die Schulter, versucht, Einzelheiten im Stadtbild auszumachen. Irgendwo dort draußen ist sein Haus, dessen Lichter. Er legt ihr das Kinn auf die Schulter, sagt: »Vielleicht Rumpelstilzchen .«
    Sie lächelt. »Ach, das wütende kleine Männchen.«
    »Den Froschkönig finde ich auch nicht schlecht. Die Idee, dass sich hinter der Fassade der Dinge etwas anderes – Schöneres – verbirgt.«
    »Könige sind aber auch nicht besser als Frösche«, sagt sie. »Mein Lieblingsmärchen ist Die Prinzessin auf der Erbse .«
    »Das glaube ich gern.« Er zieht sie an sich. »Irgendwelche Klagen?«
    Aber das ist nicht der Grund, weshalb sie die Geschichte so mag. Ihr gefällt die
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