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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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müssen, dass die Frage in der Luft lag, und das schon den ganzen Tag. Trotzdem überrumpelte sie ihn. Er verlor die Fassung und sagte lange nichts, rauchte nur nervös – wie ein viel jüngerer Mann – und schenkte sich noch einen Schnaps ein, ließ das Glas jedoch unangerührt auf dem Tisch stehen und sagte schließlich:
    »Schau dir mal das Bücherregal da drüben an. In der Mitte.«
    Ich ging hin und ahnte natürlich, was mich dort erwartete. All meine Bücher in einer Reihe, auf Schwedisch und Finnisch, vom ersten bis zum allerletzten, eine Sammlung meiner Artikel, die in einem kleinen zweisprachigen Verlag erschienen war und sich in jeder Sprache ungefähr hundert Mal verkauft hatte.
    »Hast du sie auch gelesen?«, fragte ich.
    Ariel zögerte, und es blieb ein bisschen zu lange still.
    »Nicht alle, aber die meisten«, erklärte er schließlich. Ich hörte sein Schnapsglas in der Küche auf den Tisch schlagen, danach ergänzte er unbeholfen:
    »Ich mochte das erste, wie hieß es noch, Schatten?«
    »Silhouetten«, antwortete ich.
    Ich kehrte in die Küche zurück und setzte mich wieder an den Tisch.
    »Jone hat mir auch immer Zeitungsausschnitte geschickt«, meinte Ariel. »Artikel, die du geschrieben hast, und Rezensionen von deinen Büchern. Möchtest du sie sehen?«
    Ich schüttelte den Kopf und musste starr nach unten sehen, um nicht loszuheulen. Bleischwere Hoffnungslosigkeit hatte mich überrollt wie eine vom Meer kommende Regenfront, in meinem Inneren war es stockfinster geworden, und ich ahnte warum: Ich hatte erkannt, dass ich nicht nur einsam und verloren war, mein Leben war zudem eine seltsam in Ansätzen stecken gebliebene Angelegenheit, ich war ganz der Sohn meines Vaters.
    Ich starrte weiter zu Boden, und als Ariel das drückende Schweigen brach, machte er es mir nicht leichter: »Ich verstehe, dass es nicht dasselbe ist wie … aber ich hatte das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, als dich in Ruhe zu lassen.«
    Er verstummte, als erwartete er, dass ich etwas sagen würde, als ich jedoch schwieg, sprach er weiter:
    »Natürlich hat es Momente gegeben, in denen … in den ersten Jahren, die ich hier draußen wohnte, traute ich mich einmal mit der Fähre nach Stockholm und schlich in der Innenstadt an den Häuserwänden entlang, ich hatte panische Angst und war mir plötzlich fast sicher, dass ich Leeni auf einer Rolltreppe gesehen hatte … Oder als Jouni mir von deinen Erfolgen schrieb und diese ganzen Zeitungsausschnitte schickte. Aber dazwischen …«
    Ich hatte mich wieder im Griff, schaute auf und begegnete Ariels Blick, als er seinen Gedankengang abschloss: »… kam es mir vor, als sei ich tot und wiederauferstanden und als sei all das ein abgeschlossenes Leben, das ein anderer gelebt hatte.«
    Wir unterhielten uns noch eine Stunde oder zwei. In der letzten halben Stunde fragten wir uns gründlich aus, und ich merkte, dass Ariel eigentlich ziemlich gut informiert war. Manner war offenbar ein fleißiger Briefeschreiber gewesen, und Ariel wusste das Wichtigste und einiges mehr. Er wusste, wie Adriana Mansnerus ihre letzten Jahre verbracht und dass sie gewusst hatte, er lebte noch, und er wusste, wie einsam und grausam ihr Tod gewesen war. Ariel wusste zudem, dass Henry und Leeni sich hatten scheiden lassen und Leeni wieder geheiratet hatte und wie sie umgekommen war. Er kannte die großen Wendepunkte in Jouni Manners Leben und wusste, wie alles geendet hatte und dass Stenka Waenerberg an Lungenkrebs gestorben war. Von mir wusste er, dass ich keine Familie hatte und meine Karriere zum Erliegen gekommen war, aber nicht viel mehr. Jouni hatte ihm meinen Alkoholismus verschwiegen, und mein Liebesleben, vor allem das unausgelebte mit Eva Mansnerus, hatte ich vor Jouni und allen anderen stets verborgen gehalten. Ich verplapperte mich auch diesmal nicht, aber als ich in dem zugigen kleinen Haus am Küchentisch saß und mich mit Ariel unterhielt, dessen Einsamkeit meine eigene aussehen ließ, als wäre ich ein Liebling der Götter, wünschte ich mir, ihm erzählen zu können, dass er irgendwo auf der Welt ein Enkelkind hatte.
    Ariel war ziemlich wackelig auf den Beinen, als er schließlich eine feuchte und fleckige Matratze aus einem Schrank im Hauseingang holte und in das enge Wohnzimmer bugsierte.
    »Kriegst du das hin, so zu pennen?«, fragte er und zerrte eine dicke Decke von dem durchgesessenen Sessel neben dem Bücherregal. Er grinste verschmitzt, als er die Frage stellte, seine Bissigkeit
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