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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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war inzwischen verschwunden, sein Tonfall war fast neckisch.
    »Wieso sagst du, kriegst du das hin?«, wollte ich wissen.
    »Na ja, du scheinst mir ein bisschen verwöhnt zu sein«, antwortete er, verschwand im Eingangsflur und kehrte mit einem Kopfkissenbezug zurück, der genauso voller gelber Flecken war wie die Matratze.
    Am nächsten Vormittag war seine gute Laune wie weggeblasen und die Stimmung genauso verlegen und fast abweisend wie bei meiner Ankunft. Wir tranken unseren Frühstückskaffee und aßen unsere trockenen Haferkekse und gekochten Eier unter griesgrämigem Schweigen. Ariel wies alle Symtome eines schweren Katers und großer Reue auf, und als wir unsere Adressen austauschten und einander versicherten, dass wir uns schreiben und möglichst wieder treffen wollten, kam es mir wie etwas vor, was man verspricht, ohne wirklich vorzuhaben, sein Versprechen zu halten. Als ich zunächst in nördliche und anschließend westliche Richtung nach Visby fuhr, hing der Nebel dichter denn je. In dem Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte, ich wusste nicht, ob ich mir überhaupt eine Fortsetzung wünschte.
    * * *
    Verwirrung und Verunsicherung wollten auch lange nach meiner Heimkehr nicht von mir weichen. Ich machte lange Uferspaziergänge und blickte auf das dunkle und graue Dezembermeer hinaus, als erhoffte ich mir von dort Ratschläge und Anweisungen. Heiligabend verbrachte ich wie immer in den letzten Jahren bei Eva, erzählte ihr aber nichts. Ich hatte Ariel eine Weihnachtskarte geschickt, hörte jedoch nichts von ihm, was mich so weit brachte, alles einfach vergessen zu wollen.
    Unmittelbar nach meiner Rückkehr von Gotland schrieb ich Jouni Manner einige verletzte E-Mails und machte ihm im Laufe des Winters alle möglichen Vorwürfe. Obwohl Ariel mich angefleht hatte, auf ihn und nicht auf Manner wütend zu sein, ging das einfach nicht. Die Wut, die ich auf Manner empfand, glich meiner Wut auf Leeni und Henry vor langer Zeit, und ich schrieb Manner, dass mir einfach nicht in den Kopf wolle, warum ausgerechnet mein Leben darin bestehen müsse, immer wieder gründlich hintergangen zu werden.
    Die härteren Worte fielen in unserem Mailwechsel: Wenn Manner und ich uns trafen, stritten wir – wenn wir uns überhaupt stritten – zivilisiert, wie es sich für Männer mittleren und fortgeschrittenen Alters gehörte. Relativ schnell begriff ich, was mich an dem ganzen Szenario so aufregte, weshalb ich mich so gedemütigt und verletzt fühlte: Es war die Geschicklichkeit, mit der Manner seine Rolle gespielt hatte.
    Ich wies ihn darauf hin, erinnerte ihn an die Lügen, die er mir und anderen aufgetischt hatte. Zum Beispiel, dass man ihm mit dem Tod gedroht habe, als er zu Ariels und Hurmes Verschwinden »Nachforschungen anstellte«: alles frei erfunden. Er hatte sogar eine gefälschte Fernsehreportage über den Fall gedreht und das ganze finnische Volk belogen!
    Ich wisse gar nicht, sagte ich zu Manner, ob ich mich auf seine Informationen verlassen könne. Wann habe er beispielsweise von mir erfahren, wann habe Ariel ihm erzählt, dass er einen Sohn gezeugt habe, war dies kurz vor dem »Verschwinden« gewesen, wie Manner behauptet hatte, oder schon früher? Manner gab daraufhin zu, dass er erst später, Anfang der Siebzigerjahre, von meiner Existenz erfahren hatte, als er sich aktiv, aber in aller Heimlichkeit, um Ariels Angelegenheiten kümmerte. Er fragte mich, welche Rolle das denn spiele, alles andere, was er über Ariel erzählt habe, sei doch wahr. Ich erinnerte ihn an seine rührseligen Worte während unserer aufrichtigen nächtlichen Gespräche in den Achtzigern, sein wehmütiges Gelaber von den Abdrücken, die Menschen hinterließen, und der Lücke, die so schwer wog: alles bloß Schauspielerei! Daraufhin sah ich, wie Manner von einem Schmerz durchzuckt wurde, und mir fiel ein, dass wir ja nicht nur über Ariel, sondern auch über Adriana gesprochen hatten. Aber Manner hatte sich schnell wieder im Griff, der verletzte Funken verschwand aus seinen Augen, und er sagte: »Ich musste es tun, Frank. Ari zuliebe. Ich hatte es ihm versprochen.«
    Mit der Zeit legte sich meine Wut, und zwischen Manner und mir war wieder fast alles wie früher. Ich schreibe fast, denn in einem wichtigen Punkt hatten sich unsere Leben unwiderruflich verändert. Jetzt gab es zwei, die wussten, dass Ariel Wahl lebte, unser Kontakt war enger denn je, und ich sah, dass Manner gespannt abwartete, was ich tun würde.
    Während sich der
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