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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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er einen Typen namens Virta umgebracht. Ohne jeden Grund. Sie ließen Virtas Leiche zwar rechtzeitig verschwinden, aber danach hingen uns die Bullen ständig auf der Pelle.«
    »Und das hier?«
    Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und meinte mit ihm nicht nur die kleine Küche, das Haus und den Garten dahinter, sondern auch den größten Teil seines Lebens, neununddreißig Jahre.
    »Das war Jone Manners Idee. Ich versteckte mich bei ein paar Schweden, die ich damals kannte … in Jakobsberg … bis ich Jone erwischte. Er kam rüber und regelte alles. Quatschte mit den Bullen und den Behörden und so. Du kennst ihn ja, Jone kann so etwas. Das hat er immer schon gekonnt.«
    »Aber musstest du nicht aussagen … die anderen verpfeifen?«
    Ariel nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
    »Jone schaffte es, den Bullen einzureden, dass ich nichts wüsste. Ich kannte keine Namen, ich war bei keinen Geschäften dabei gewesen, nichts, ich war nur ein armer Fixer, der rein zufällig Zeuge eines tödlichen Streits zwischen Kriminellen geworden war. Ich war ja nie erwischt worden, hatte keine Strafakte. Deshalb klappte das. Außerdem half ich mit. Ich tat so, als könnte ich nur Finnisch.« Er trank wieder einen Schluck Schnaps, zog eine selbstzufriedene Grimasse und ergänzte: »Außerdem stotterte ich, das half natürlich auch.«
    »Du hast den Dummen gespielt.«
    »Ja, ich habe mich dümmer gestellt, als ich war. Das konnte ich ganz gut. Man durfte nur nicht high sein, wenn man mit den Bullen quatschte. Wenn man high ist, hat man sich nicht im Griff.«
    Ich lehnte mich gegen die harte Rückenlehne des Stuhls und spürte das Verlangen nachzugeben, einfach zu sagen »ach, was soll’s, hol noch ein Glas heraus, ich trink auch einen«. Aber ich widerstand. Stattdessen fragte ich: »Und warum bist du hier? Ihr habt hier doch geschmuggelt. Hattest du keine Angst, dass sie herkommen und nach dir suchen würden?«
    »Nee. Für die waren das hier nur ein paar Häfen. Es gab viele Routen. Außerdem sind ein paar von ihnen hier geschnappt worden. Danach mochten sie die Insel nicht mehr, sie schimpften ständig über sie.« Ariel sah mich ernst an und ergänzte: »Aber wenn ich mit von der Partie war, fand ich es hier immer unglaublich schön.«
    »Du lebst hier unter deinem eigenen Namen«, sagte ich. Ich hatte gesehen, dass auf dem Briefkasten am Gartentor Wahl stand.
    »Für mehr als dreißig Jahre hieß ich Billy Johansson«, erwiderte Ariel und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag, es war ein schnelles und freudloses Aufblitzen, das so schnell verschwand, wie es gekommen war. »Hier draußen nannten sie mich BJ. Auch darum hat sich Jone gekümmert, um den Namen, meine ich.« Er verstummte, trank einen Schluck Schnaps und blickte in die Novemberdunkelheit hinaus:
    »Mittlerweile sind sie alle tot, der Direktor, Koikkala, alle … hier in Schweden verjährt Mord, das weißt du, nicht?«
    »Aber hast du nicht …?« Weiter kam ich nicht, da ich nicht wusste, wie ich meine Frage beenden sollte, es gab so viel, was ich wissen wollte, dass die Fragen sich überschlugen und gegenseitig im Weg standen. Ariel schien meinen abgebrochenen Versuch einer Frage nicht gehört zu haben, sein Blick war auf die undurchdringliche Dunkelheit draußen gerichtet:
    »Manchmal habe ich gedacht, dass ich doch zu schissig war, dass das Ganze hier überflüssig war und ich bloß Panik hatte und sie niemals hinter mir her waren.« Er zuckte mit den Schultern und meinte:
    »Aber verdammt, ein paar von denen waren echt genauso irre wie Hurme.«
    Plötzlich übermannte mich das Gefühl, wie absurd und auch beängstigend das Ganze war. Wir saßen in einem baufälligen Haus in einer ländlichen Gegend Gotlands, waren Fremde füreinander, der eine siebenundvierzig Jahre alt und unfähig, jemals wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken, der andere im Rentenalter – wenn meine Informationen stimmten, war Ariel fünfundsechzig – und offensichtlich versessen auf selbstgebrannten Schnaps. Wir waren Vater und Sohn, wussten aber praktisch nichts voneinander, und saßen jetzt hier im Nebel und der Dunkelheit und sprachen über vierzig Jahre zurückliegende Verbrechen und Fluchten. Das war unwirklich. Andererseits: War es nicht genauso wirklich oder unwirklich wie alles andere auch? Das ganze Leben war doch von einer Membran aus Unwirklichkeit überzogen, einer rätselhaften Märchenhaftigkeit, die zugleich lockte und ängstigte. Nur mit Willensstärke und
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