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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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einem beharrlichen Streben nach festgelegten Zielen konnte der Mensch das Unwirkliche in Schach halten und sich einbilden zu wissen, wer er war und dass sein Leben einen Sinn hatte. Ich sagte es Ariel, dass alles unwirklich sei, auch dass wir zwei uns gegenübersäßen, vor allem die Tatsache, dass wir zwei uns gegenübersäßen. Woher wollte ich letztlich eigentlich wissen, dass er überhaupt der war, für den er sich ausgab?
    Ariel lächelte wieder. Es war das gleiche, schnell erlöschende Lächeln wie zuvor, jedoch nicht mehr so hart. Er hatte schon einige Schlucke getrunken, der Alkohol dämpfte allmählich die schlimmste Angst oder das Misstrauen oder was immer er empfand. Ich betrachtete ihn, während er meine Worte verdaute. Wie unterschiedlich wir waren! Dieser mürrische, beinahe schmollende Ernst in ihm, die fast völlige Abwesenheit von Ironie und Doppeldeutigkeit in allem, was er sagte. Und seine Scheu, die betonte Distanz, nicht nur in Worten und Gesten, sondern auch als eine Steifheit im ganzen Körper. Wir hatten zwar die gleichen Gene, entstammten jedoch unterschiedlichen Epochen, und Ariel schien von meiner nicht im Geringsten beeinflusst zu sein. Ich hätte mir diese Souveränität gerne als etwas vorgestellt, was auf Gegenseitigkeit beruhte, aber das konnte ich nicht. Ariels Zeit hatte mich geformt, sie spukte mir im Kopf herum, steckte in mir.
    »Solche Zweifel müsste ja wohl eher ich haben, nicht du«, sagte Ariel. »Welche Beweise habe ich denn dafür, dass du es wirklich bist? Ich habe Jones Brief, dass du Frank Loman bist und so und so aussiehst. Aber was ist, wenn du ein Betrüger bist, der erst Jone hereingelegt hat und jetzt mich. Vielleicht bist du ja ein … ich weiß nicht, irgendsoein schmieriger Journalist vielleicht?«
    Er lehnte sich zurück, und auf seinem trockenen und scharf geschnittenen Gesicht lag eine neue, fast zufriedene Miene. Ich rief mir Manners Worte ins Gedächtnis, dass die Leute Ariel oft unterschätzten, weil er so liebenswürdig war.
    »Ich wollte dich nicht verletzen«, sagte ich. »Das ist nur alles so …«
    »Das hast du auch nicht«, erwiderte Ariel. »Aber warte mal kurz, ich zeig dir was.«
    Er stand überraschend wendig von seinem Stuhl auf, verschwand durch das kleine Wohnzimmer in einen anderen Raum, vermutlich das Schlafzimmer, und kehrte mit einer akustischen Gitarre aus hellem Holz zurück. Das Instrument schien alt zu sein, es hatte einen großen Korpus und einen breiten Hals, und das Holz war an mehreren Stellen fleckig und verfärbt. Ariel ließ sich mit dem Instrument im Arm auf seinem Stuhl nieder.
    »Das kommt von der Feuchtigkeit«, erklärte er, »man muss sie dauernd stimmen.«
    Blitzschnell war er damit fertig und spielte einige schnelle Melodiephrasen, als wollte er seine Finger aufwärmen.
    »Jone hat mir geschrieben, dass ihr über Musik geredet habt«, sagte er und begann zu spielen. Ich erkannte das Lied sofort: Er spielte Geh nicht einsam in die Nacht in einem Arrangement, das Melodie und Begleitung enthielt. Er ließ die Crescendos aufbrausen, wo sie hingehörten, und die Melodie an Stellen, an denen es so sein sollte, ruhig und zart murmeln wie ein Frühlingsbach. Er spielte gut und baute auch das schöne Solo ein, und es gelang ihm, es sowohl mit Akkorden als auch einer Art Gegenmelodie zu unterlegen. Während er spielte, saß ich auf dem harten Küchenstuhl und starrte meinerseits in die Dunkelheit hinaus, und in meinem Kopf sang es: Das ist ein verdammt gutes Lied, das ist ein so unglaublich gutes Lied.
    Als Ariel fertig war, sagte er zunächst nichts, ließ lediglich den A-Dur-Akkord verklingen und blieb mit der Gitarre im Arm sitzen.
    »Point taken«, sagte ich, ohne richtig zu wissen, was ich eigentlich damit meinte.
    »Ich habe leider keine Stimme mehr«, sagte er. »Wie ist es mit dir, spielst du?«
    »Ein bisschen. Aber ich bin schlecht. Außerdem habe ich seit vielen Jahren nicht mehr gespielt.«
    Er hob die Gitarre an und reichte sie mir über den Tisch hinweg, ich kam nicht mehr dazu, das Manöver abzuwehren. Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen, streckte sich nach seinem Glas und trank ein Schlückchen. Ich hielt das große und klobige Instrument im Arm und versuchte, ein paar Akkorde zu spielen: Das war nicht leicht, der Abstand zwischen Saiten und Griffbrett war groß, es war eine Gitarre, die kräftige Finger erforderte. Ich machte einen halbherzigen Versuch, einen Blues in E-Dur zu spielen, gab aber auf und
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