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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht
Autoren: Kjell Westoe
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anheizten.
    Ich ließ das Auto an der Landstraße stehen und ging die lehmige Schotterpiste hinab zum Haus. Als ich näherkam, sah ich, dass der intensive Rauchgeruch mehr als eine Erklärung hatte. Auch aus der hinteren Ecke des Gartens stieg Rauch auf, und als ich mich dem Gartentor näherte, sah ich, dass dort jemand Reisige und Äste verbrannte: ein kleiner und hagerer älterer Mann in einer Jeans und einer abgewetzten, duffelcoatähnlichen Jacke. Ich begriff sofort, dass er es war, blieb aber dennoch am Tor stehen und war unfähig zu handeln. Ich wünschte, ich könnte erzählen, dass mir in diesen endlos langen Sekunden tiefsinnige Dinge durch den Kopf gingen, die eines so bemerkenswerten Lebensschicksals und eines so schwer zu lösenden Rätsels würdig gewesen wären, aber so war es leider nicht. Ich erinnere mich nur an die Feuchtigkeit, das Grau, das leise Knistern der brennenden Zweige, den Brandgeruch und die hagere, leicht gebeugte Gestalt, und dass ich dachte: »Das wird nicht leicht.« Und dann muss er, nach einer gefühlten Ewigkeit, gespürt haben, dass ihn jemand beobachtete, denn er drehte sich um, sah mich und erstarrte. Sekundenlang blieben wir regungslos und stumm stehen und starrten uns an, dann ging er ein paar Schritte auf mich zu, blinzelte ein wenig und sagte:
    »Bist du … Frank?«
    »Ja, das bin ich.«
    Er kam mit zögerlichen Schritten zum Gartentor. Dabei sah er mir unablässig in die Augen, und schon in diesen Sekunden fiel mir das Scharfgeschnittene, die fast vertrocknete Strenge seiner Gesichtszüge auf. In ihnen gab es nichts von dem kindlich Wildwüchsigen und leicht Lächerlichen, was ihn auf den meisten alten Fotos kennzeichnete. Alles war abgeschliffen worden, und es gab auch keine Mähne: Seine grauen Haare waren zwar lang, aber glatt und schütter und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er sah aus wie ein Mensch, den die Jahre herausgeschnitzt hatten, der alles Unnötige abgelegt hatte und nun nur noch aus dem Nötigsten bestand, was man zum Überleben brauchte. Aus meinem Vater, dem Troll, war mein Vater, der Indianer, geworden.
    Er streckte seine Hand nicht zum Gruß aus, er berührte mich nicht, tat nichts dergleichen. Stattdessen nickte er mir nur kurz zu, öffnete das Gartentor und sagte: »Dann bist du jetzt also hier.«
    Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass unsere erste Begegnung geglückt verlief. Sie gestaltete sich überwiegend schwierig, vor allem am Anfang. Lange strömte unser Gespräch so zäh wie Teer, und es herrschte eine verlegene, misstrauische, gelegentlich fast feindselige Stimmung.
    Es kam ein Augenblick, am Abend, bis zu dem es uns noch nicht gelungen war, uns etwas von Bedeutung zu sagen, unser Gespräch verlief extrem wortkarg. Wir aßen zu Abend – Tee und Bier und deutsches Roggenbrot und Käse und ein Stück Lachs, das Ariel bei der örtlichen Räucherei besorgt hatte –, und nach langem Schweigen sprach er mich darauf an, dass ich nur Tee und kein Bier trank, und erkundigte sich, ob ich vielleicht lieber etwas Hochprozentiges haben wolle. Ich sagte ihm die Wahrheit, dass ich ein trockener Alkoholiker war. Ariel seufzte und fragte, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er sich einen Kurzen genehmige. Er ging zur Speisekammer, holte eine halbvolle Flasche – selbstgebrannt, vermutete ich – aus einem Regal und schenkte sich ein. Er setzte sich, trank einen kleinen Schluck von der klaren Flüssigkeit und meinte:
    »Das ist ein feiner Tropfen. Du bist sicher …?«
    Ich nickte und sagte:
    »Glaub mir, ich kann es mir einfach nicht erlauben.«
    Er betrachtete mich forschend, schüttelte eine Zigarette aus seiner Schachtel und fragte:
    »Was willst du eigentlich von mir? W-warum wolltest du herkommen?«
    Es war das erste Mal, dass ich ihn ansatzweise stottern hörte, er schien seinen Sprachfehler fast völlig überwunden zu haben. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und breitete die Hände aus, um ihm zu verdeutlichen, wie absurd ich seine Frage fand.
    »Ich muss das doch verdammt nochmal erfahren«, sagte ich. »Ich meine … das alles hier, vierzig Jahre Versteckspiel, worum zum Teufel geht es dabei?«
    »Ich habe damals gesehen, wie sie Hurme erschossen haben«, antwortete Ariel und zündete seine Zigarette an. »Sie wären hinter mir hergewesen. Aber dann kam Jo …«
    »Warum haben sie Hurme umgebracht?«, musste ich ihn einfach unterbrechen.
    »Er hatte die Kontrolle über sich verloren, war völlig verrückt geworden. Im Sommer hatte
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