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Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Titel: Gegen Die Laufrichtung: Novelle
Autoren: Bodo Kirchhoff
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ich verstand jedes Wort, wie ein Verrückter oder Minister sprach er von sich in der dritten Person, Dem Cobb, sagte er, dem geht's heute gut und morgen noch besser, da steht der Cobb im Finale, und ich begann ihm zuzuhören und vergab bei 4:3 eine Rückhand, ich weiß noch, wie ich zum Ball stand, ausholte, dachte, der muß jetzt kommen, dann ist das hier bald vorüber, aber der Ball war zu kurz, und danach gingen mir zwei weitere Bälle ins Netz, während Cobb immer noch vor sich hinsprach, als könnte er damit die Netzkante anheben. Ich verlor dieses Spiel, ich verlor auch das nächste; ich verlor jeden Rhythmus und hörte Geräusche, die ich sonst nie auf dem Platz hörte, den Wind in den Bäumen neben dem Stadion, und Cobb bewegte sich kaum noch, er hatte ja diese Gewohnheit, wenn er einen kleinkriegen wollte, sich kaum zu bewegen, immer schien er zu wissen, auf welche einzig mögliche Weise ich seine Bälle zurückspielen konnte, und brachte es fertig, wie ein Galeriebesucher seinen Standort zu wechseln, der Vergleich stammt nicht von mir, die Ella formulierte das so. Cobb machte mit mir, was er wollte, ich war nur noch ein Häuflein Sand, das, vom Wind gescheucht, die Dünen herauf- und herabtanzt, sich zerstreut und wieder sammelt und dabei doch reglos bleibt in der Weite, auch das stammt von Ella; keinen Punkt holte ich mehr, bis es plötzlich 6:6 hieß, schlimmer hätte es nicht kommen können… Christine unterbricht ihr Streicheln. Weshalb, fragt sie, und Jonas erklärt, wie ein Unentschieden im Tennis durchbrochen wird. Er erklärt es, wie man Regeln eines Kinderspiels erklärt, er vermeidet das Wort Tiebreak, er liebt sie. Natürlich wußte ich, wie viele solcher Runden ich schon verloren hatte gegen Cobb, neun von zwölf, Tennisspieler merken sich solche Zahlen, sie sind ihre Geschichte, ich erwarte also böse Minuten, aber dann wird daraus eine halbe Stunde. Als es 14:15 steht, da scheinen Cobb und ich allein zu sein, die Zuschauer sind verstummt, weil dort unten welche Laute ausstoßen wie Sterbende, die dem Leben noch eine und noch eine Sekunde abringen, noch einen und noch einen Ball, bis der Vorsprung auf einer Seite zwei Punkte beträgt und damit schlagartig der Tod auf der anderen eintritt, aber da waren wir noch nicht – ich wehrte den elften Satzball ab, mit einem Wunder, einem As, niemand weiß, wie die Bahn eines solchen Balls zustande kommt, wer das Gegenteil sagt, ist ein Lügner; und danach gleich ein Doppelfehler, als sei nichts von dem, was eben noch das Wunder bewirkt hat, übrig. Trotzdem rette ich mich bis zum Achtzehn-beide, ich weiß nicht mehr, wie, ich weiß nur noch: Cobb schlägt auf, mein Return berührt die Linie, ich sehe es, wie er es sieht, und doch, eine Sekunde später, der Aus-Schrei. Cobb schaut mich an, er erwartet, daß ich mich wehre, aber ich sage kein Wort, ich wechsle die Seiten, wähl den Ball für meinen ersten Aufschlag; die Stille im Stadion erschreckt mich, als ich den Ball nach oben werfe, ihn treffe und weiß, daß nichts mehr in mir ist, um weiterzukämpfen, ich stehe nur da, und Cobb spielt mir genau vor die Füße, trifft meinen Schuh, als spielten wir Völkerball; ich bin getroffen, scheide aus, während Cobb noch das Hemd wechselt vor dem letzten Satz. Und der dauerte dann keine zwanzig Minuten, an die ich mich kaum erinnere, alles um mich herum löste sich auf, ich glaubte mich völlig allein, lichterloh brennend, etwas, das mir nur im Freien passierte, nie in der Halle… Christine macht Schscht, sie hält Jonas noch einmal den Mund zu. Jemand betritt die Toiletten, ein Mann mit pfeifendem Atem. Er geht in die entfernteste Kabine, er zieht sich aus, er läßt sich nieder; er zwingt zu einer Intimität gleichen Gewichts.
     Christine verschiebt ihre Finger, sie befühlt Jonas' Mund, sie legt den Kopf in den Nacken, während der Mann seinen Atem in eine Art Marsch verwandelt und Jonas' Hand an ihrer Kleidung herabrutscht. Jonas greift Christine unter den Rock, er weiß nicht, ob sie das will, er weiß nur, daß er das nicht sollte, ihr einfach unter den Rock greifen, doch unaufhaltsam geschieht es, als säße dort jetzt, blind in der Spitze des Fingers, sein Ich; Jonas kann nur vermuten, was es da unter dem Nagel hat, was es da aufzieht, wie das Aufziehen vom Adventskalendertürchen fühlt sich das an, und da kam ja oft etwas Rotes zum Vorschein, ein Kerzchen, ein Apfel, wie rot mag die Christine da sein, im Gefängnis kursierten Muschis aus Gummi,
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