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Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Titel: Gegen Die Laufrichtung: Novelle
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Hochhäuser vor sich, ohne Harndrang, ohne Fluglärm, ohne Welt. Erst als ein Wölkchen die Sonne verdeckt, öffnet Jonas die Augen. Er bewegt Kopf und Füße, er kratzt sich am Hals; hat er geschlafen? Kann sein. Er steht auf, er geht ins Café.
     Das Telefon hängt im Untergeschoß, bei den Toiletten. Schon auf der Treppe hört er Christine, sie atmet tief durch; so sicher weiß er, daß dort Christine und keine andere durchatmet, als habe sie mit ihm auf der Zelle gelegen, nur warum sie so atmet, das weiß er nicht, aber das kann man sich denken, wegen eines Mannes, denkt Jonas und geht die letzten Stufen hinunter. Und beim Telefon steht Christine, der Hörer ist aufgelegt, sie raucht, sie schnauft, ihr Haar ist zerwühlt, wie nach der Liebe schaut sie aus, Jonas geht zu ihr. Sie nimmt seinen Arm, sie legt ihn um ihren Hals, er beugt sich über ihre Schulter und sieht seine Uhr. Die ruhige Zeit im Operncafé, wenig Kommen und Gehen, auch auf den Toiletten; Jonas und Christine, allein. Sie vermeiden jede Bewegung, bis Jonas Luft holt, fragen will, was geschehen ist. Christine legt ihm eine Hand auf den Mund, sie mag jetzt nicht reden, die Tante ist gerade gestorben, vor lauter Erleichterung weint sie, Später erzähl ich dir alles; und Jonas denkt an morgen, an die Zukunft, an eine Ewigkeit mit ihr. Christine zieht die Hand zurück. Dann drängt sie sich an ihn, vielleicht drängt er sich aber auch an sie, schwer zu entscheiden; aus beider Drängen oder Taumeln wird jedenfalls ein Seitwärtskippen durch die offene Tür der Herrentoilette, die Christine mit der Fußspitze hinter sich schließt, eine Geschicklichkeit, die sie sich gar nicht zugetraut hätte, die ihr den Mut macht, der nötig ist, eine der drei Kabinentüren aufzustoßen und sich mit Jonas in die Zelle zu bugsieren, wobei sie, wiederum geschickt, mit ihrer Schulter die Kabinentür zudrückt, um sie dann, eine Hand auf den Rücken nehmend, blind zu verriegeln, sechster Knoten.
     Jonas und Christine auf engstem Raum, sie verschränkt die Arme, er bricht das Schweigen, so habe er oft in Toiletten gestanden, in den letzten Minuten vor einem Spiel, versucht, Ruhe zu finden. Christine sieht ihn an, sie streicht ihr Haar zurück, es ist im Nacken kurz und oben streng frisiert, ein Helm der Ohnmacht und Wut, wie jeder Herrenschnitt; sie entblößt ihre Ohren, die rot sind, durchbluteter als die Wangen, röter noch als ihre etwas schrägen, tränennassen Augen, röter sogar als die heftigen Lippen; auch Christine versucht nun, Ruhe zu finden, Sag, was war eigentlich vor deiner Ärztin? – Vor der Ella? Jonas wirft den Kopf zurück: Nicht zu beantworten. Vor der Ella, da ging er an spielfreien Abenden in Lokale, da ließ er sich von Studentinnen, die keine Pille nahmen, in Gespräche ziehen, da folgte er ihnen, tief in der Nacht, in ihre Wohnungen, in denen immer noch jemand wohnte, manchmal auch zwei oder drei, und in den frühen Morgenstunden machten sie's dann, irgendwie; nie hatte er herausbekommen, was diese Mädchen studierten, meistens war ein bißchen Philosophie dabei, dahinter verbarg sich dann Jura, vielleicht machte sie das so erwachsen, sie taten es gern, am liebsten bei Kerzenlicht, sogar Spielchen mit ihren Kerzen konnte er vorschlagen, und das alles zwischen Seminarpapieren und Illustrierten, wenn er da nur an München dachte, Elisabethstraße, den Namen hat er wenigstens behalten. Und war's dann geschehen, huschte die Studentin nackt aus dem Zimmer, so sah er sie dann auch mal von hinten, eilte auf Zehenspitzen durch den Flur – immer waren sie lang, diese Flure, und das Bad lag am Ende –, rannte fast, in der Furcht, irgend etwas könnte ins Zahnfleisch eindringen, ihr schönes Leben zerstören, traf womöglich noch auf einen Mitbewohner, den Patrick oder den Alex, oder wie die so hießen, spuckte alles ins Klo, desinfizierte sich und kam wieder, kuschelte und sprach über Adorno und Edberg, als lebten die auch in der Wohnung. So war das. Vor meiner Ärztin, sagt Jonas, war Tennis, nur Tennis, und da drängt es ihn, von der Schlacht von Paris zu erzählen, während Christine sein Ohrläppchen streichelt, vom Spiel gegen Cobb um den Einzug ins Finale, seiner ärgsten Niederlage unter den Augen der Ella.
     Am Anfang lief es gut, sagt Jonas, 6:2 für mich, 6:3 für mich; dann wurde ich müde, verlor einen Satz, kam aber wieder im vierten, bis Cobb auf einmal vor sich hinsprach. Ich war das gewohnt, sein Gemurmel, aber diesmal war's lauter,
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