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Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Titel: Gegen Die Laufrichtung: Novelle
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Schluck. Dann schaut er zu der Frau im Mantel. Sie raucht noch immer und hat jetzt ein Buch auf dem Schoß, offenbar einen Bildband über die Alpen; sie blättert darin und behält unterdessen – Variante zwei – die Zigarette im Mund. Eine Botschaft? Wie ihm Frauen in Hotelhallen Botschaften sandten, Indian Wells, Hyatt, oder war's Tokio, das Hilton, als er, im Gefolge anderer, Mecir, Lendl, Cobb, wie mit sich selbst verwechselt angezwinkert wurde. Er erinnert sich nicht mehr genau, nur eine Narbe ist da noch, 2:6, 1:6, gegen Lendl. Auf jeden Fall fürchtet er auch diese Frau, trotz ihrer harmlosen Beschäftigung, die ihm aber nicht harmlos erscheinen will. Frauen mit roten Nägeln wandern nicht, denkt er, sie amüsieren sich höchstens über Leute, die wandern, wandern tun nur die Finger der Frau, sie wandern über die Seiten des Buchs, sie streichen am Papierrand entlang, sie spielen mit den Ecken, krümmen sie etwas und glätten sie wieder, er möchte wegschauen, aber schafft es nicht, da müßte er schon die Augen zukneifen, nur fehlt ihm auch dazu die Kraft; als die Frau aufblickt, setzt er die Kappe ab. Sein Haar ist grau, und im Gegensatz zu früher trägt er es kurz. Man war gewohnt, ihn mit Stirnband spielen zu sehen, einem leuchtenden Tuch, unter dem dunkle Büschel hervorquollen; nach jedem Satz knüpfte er es neu und provozierte Gegner und Schiedsrichter durch die Langsamkeit seiner Gebärden. Der Entlassene stützt das rasierte Gesicht in die Fäuste. Seine Oberlippe, drei Jahre lang von Bart bedeckt, schimmert wie die Haut eines Kindes. Dann, endlich, so, als müsse er jedes Wort in der Ferne entziffern, spricht er die Frau am Nebentisch an. Klettern Sie denn? Die Frau drückt ihre Zigarette aus. Auf vierzig schätzt der Entlassene sie und wird nicht erfahren, ob das stimmt. Er wird bloß erfahren, daß die Frau als Kind ein Korsett trug und bei einer Tante aufwuchs; dieser Tante schien sie mißgebildet, und aus der Mißgebildeten, die keine war, wurde eine seismographische Raucherin. Wie meinen Sie das? fragt sie zurück.
     Der Entlassene sucht nach Worten. Er will sagen, daß ihn ihr Interesse an einem Bildband über Gebirge auf die Idee gebracht habe, sie könne Bergsteigerin sein, obwohl sie gar nicht wie eine Bergsteigerin aussehe, wobei er zugeben müsse, daß er kein festes Bild von Bergsteigerinnen besitzt, nur von Männern, die Berge bezwingen, doch statt dessen zieht er die Brauen hoch und kränkt damit die Frau im Mantel. Sie, die bei ihrem Rauchen schon Mühe hat, die Wohnung im dritten Stock zu erreichen, fühlt sich auf den Arm genommen und kann dem Entlassenen (der ihr etwas gestrig erscheint) nur sagen, daß sie bezweifle, daß er nicht wisse, wie er seine Frage, ob sie denn klettere, gemeint habe, womit ein erster, kleiner Knoten zwischen ihr und ihm geknüpft ist.
     Während sich beide nun einander zudrehen, erreicht die Sonne die vorderen Tische; der Entlassene schließt die Augen. Er weiß wirklich nicht, wie er die Frage gemeint hat und wird an seine letzten Stunden mit einer Frau erinnert, wenn das überhaupt Stunden waren, ein- oder eineinhalb Stunden waren das, an einem späten Nachmittag, die Ärztin hat ihn noch einmal in ihrer Westendwohnung empfangen, er hat sie angefleht, mit ihm zu schlafen, er, dem junge Mädchen während eines Turniers schon einmal Nacktfotos zuspielten mit einer Telefonnummer auf dem Po, bettelte da, so muß man es sagen, um einen Fick, und die Ärztin rief, Na schön, was nicht etwa hieß, daß sie ihm dieses Erbettelte auch gewährt hätte, sie gewährte ihm nur eine Art Waschung, in deren Verlauf er jedoch nichts vermißte, außer einem verzückten Entgegenkommen, das sie ihm früher beschert hatte; sie erleichterte ihn mehr oder weniger, wobei sie, mit diesem Weniger, weit mehr als seine Tropfen ans Licht brachte: einen Mangel an Stolz, und das nur zwei Stunden bevor er sie, ihr Rennrad schiebend, mit dem neuen Begleiter über den Opernplatz gehen sah. Der Entlassene bereut es, diesen Menschen, Galeriebesitzer, im Bruchteil einer Sekunde erstochen zu haben, noch immer kann er sich die Tat nur als Reflex erklären, gleich einer traumhaften Bewegung am Netz; kein Psychologe ist dieser Erklärung gefolgt. Er hört, wie die Frau im Mantel ihr Glas absetzt, er fürchtet, sie könnte gehen, und schaut auf. Sie zieht den Mantel aus: Eigentlich sieht man mir an, daß ich nicht klettere – sie legt den Bildband auf den Stuhl an ihrer Seite. Der
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