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Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Titel: Gegen Die Laufrichtung: Novelle
Autoren: Bodo Kirchhoff
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erloschene Augen, müde entsagende Wangen; die rechte Hand, längst nicht mehr schwielig, richtet noch den Kragen von neunzehnhundertneunundachtzig, bevor er die Treppen hinaufläuft. Jonas läuft durchs Café und glaubt seinen Namen zu hören, er stürzt ins Freie und sieht, daß Christine noch da ist. Und so behutsam, als könne der Stuhl unter seinen Wünschen einbrechen, setzt er sich zu ihr.
     Christine raucht. Sie weiß, daß Rauchen zum Tode führt, aber Nichtrauchen führt auch zum Tode, nur etwas später und auf weniger unangenehme Weise, wobei dies keineswegs erwiesen ist. Oder stirbt die Tante, die weder geraucht noch getrunken hat, heiter? Christine schafft es nicht, ins Krankenhaus zu fahren. Vor zwei Wochen hat sie es noch geschafft, der Tante die Nägel zu kürzen, danach war ihr Mitleid erschöpft. Sie schlägt ein Bein übers andere, sie schließt die Augen; sobald sie an dem Vormittag die Augen schließt, spinnt sie sich in ein Netz von Problemen. Wie organisiert man eine Beerdigung? Wann dieses Gutachten schreiben, wenn nicht jetzt? Wie die Pflege der Tante bezahlen, falls nötig, wie den Haß auf sie verlieren; was tun, wenn Jonas den Arm um sie legte? Unbewegt, bis auf ihr Rauchen, sitzt Christine in der Mitte dieses Netzes, Spinne und Beute. Seit du nicht mehr Tennis spielst, was hast du da gemacht? fragt sie im Plauderton. Ich? War im Gefängnis, sagt Jonas. Warum? Hast du gestohlen? – Schlimmer. – Fahrlässige Tötung? – Schlimmer. – Soll das eine Drohung sein? – Eine Auskunft. Christine greift nach einer neuen Zigarette. Ach so. Sie verzögert das Entzünden, Jonas fällt ein, daß man Frauen Feuer gibt. Er nimmt ihr das Feuerzeug aus der Hand, er weiß nicht, wie man es benutzt. Einfach nur drücken, sagt Christine, bevor sie Und warum nun? ruft, Was hast du verbrochen?, während Jonas einfach nur drückt; erst beim dritten Mal kommt das Flämmchen, Zeit genug, sich eine Lüge auszudenken. Kokainschmuggel. Er spürt, daß ihn die Wahrheit weniger unsympathisch gemacht hätte, Totschlag aus Eifersucht, das kann jedem passieren. Christine schüttelt den Kopf, Du hast doch beim Tennis verdient oder doch nicht? Jonas hebt matt die Hände, er denkt an seine Schlacht gegen Cobb, nach der er nicht mehr derselbe war, an eine vergebene Rückhand, vierter Satz, siebtes Spiel, die Cobb das Break brachte; ein einziger Ball hat dieses Halbfinale, hat sein Leben entschieden, jene Rückhand, die hätte er durchziehen müssen, Von Tennisspielern, sagt Jonas, kann man dreierlei lernen: Vergessenkönnen, Schlafenkönnen, Fleiß. Ich vergaß nichts, ich schlief schlecht, ich war faul. – So einer sollte kein Sportler werden, sagt Christine. Ich wurde dann ja auch Schmuggler, erwidert Jonas. Und wo hast du geschmuggelt, wo hast du gesessen? Christine muß gähnen, sie verpaßt es, sich den Mund zuzuhalten, Jonas sieht ihre Zunge; er ahnt, daß sie Einzelheiten über ein Martyrium erwartet, über Jahre zwischen Ratten und Mördern, nur saß er in einer ordentlichen deutschen Anstalt, mit rüdem Ton zwar, aber jeder Form von Hygiene, dazu Seelsorge, Bildungsmaßnahmen und Fernsehen. Das war in Mexiko, sagt er, ich wurde da auch verurteilt. Ich saß drei Jahre unter Mexikanern. Jonas merkt, daß ihm alles fehlt, diese Tortur auch nur anzudeuten, während Christine schon sagt: Und in der Zeit hast du mit Männern geschlafen. Sie lacht; ein Mensch, der aus der Bahn geworfen wurde, ein Mann, der im Gefängnis saß, einer, der das Lieben verlernt hat, das fällt in ihr Ressort. Nein, nie, murmelt er; seine Antwort kommt prompt. Jonas wird rot. Er sagt die Wahrheit. Christine preßt die Hände zusammen. Mann, o Mann, flüstert sie und drängt ihn, über diese Ärztin zu sprechen, die ihn verfolge: ob er die geliebt habe, oder sei das nur eine Passion gewesen? Jonas zögert, er weiß nicht, was sie meint mit Passion, meint sie, er habe da nur gelitten, gelitten hat er sicher viel, aber er hat sich auch nie so entleert wie in den Händen der Ella, darüber mag er bloß nicht reden, er schweigt, und Christine kommt auf das Gefängnis zurück: Da hast du also widerstanden. Ihr Kompliment, wenn es eins war, macht Jonas verlegen, Oder hätte ich sollen? Christine sieht ihn an. Sie erwidert, Nein, er erwidert, Gut; ihr Theaterflüstern, sein Gefängnismurmeln, fünfter Knoten.
     Passion war das nicht, sagt Jonas beinahe, nur konnte mich ein Wort von ihr kleinkriegen, ein einziges Nein; Jonas bewegt jetzt die
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