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Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Titel: Gegen Die Laufrichtung: Novelle
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Entlassene weiß nicht weiter; wie ein Unbefugter kommt er sich jetzt vor unter all den Menschen an diesem Montag, die nie einen Mord begangen haben. Ich wollte Sie nicht kränken, aber Ihre Augen strahlten beim Blättern. – Das kann nur an der Sonne liegen, entgegnet die Frau. Ihre Augen strahlen bestimmt auch.
     Meine Augen? Der Entlassene nimmt die Brille ab, nun ganz auf seine Augen setzend, Augen mit etwas matten Lidern, aufregend gewöhnlich, nach Ansicht der Ärztin, wie diese Augen aus dem Tatortvorspann; die Frau am Nebentisch kann jedenfalls nicht zum Kletterthema zurückkehren. Sie öffnet eine Aktentasche, sie entnimmt ihr Notizen für ein Gutachten, sie erscheint dem Entlassenen jetzt als Journalistin, gerissen genug, mit einem Gebirgsbuch falsche Fährten zu legen, und eilig sagt er, Sie verwechseln mich, was zu der Frage führt, die auf der Hand liegt, wenn der Dialog nicht einschlafen darf, Mit wem sollte ich Sie verwechseln? Der Entlassene hat darauf keine Antwort. Er trinkt einen Schluck, er hört sein Herz; zwei Männer mit bunten Krawatten schauen zu ihm, sie haben den früheren Tennisspieler erkannt, er erinnert sich wieder an den Triumph in den Augen der Leute, wenn die Entfernung zu dem bekannten Gesicht auf einmal so klein ist, daß man in dieses Gesicht spucken könnte, und überraschend für ihn selber, nennt er seinen Namen, Jonas, als sei die Frage damit beantwortet, er also die Verwechslung in Person, inständig hoffend, daß es keinen anderen, mit dem sie ihn verwechseln könnte, gebe, auch wenn es den bekanntlich immer gibt. Zweiter Knoten.
     Der Entlassene war ein begabter Tennisspieler, der zu wenig trainierte. Seine Schläge waren die Rückhand, eher unterschnitten denn überrissen, ein nie ganz harter, dafür sehr genauer, den Gegner weit aus dem Feld zwingender Aufschlag, dem meist ein Volley in die andere Ecke folgte, sowie der unerwartete Stoppball. An guten Tagen schaffte er es, auch den schnellsten Bällen alle Kraft zu nehmen und sie hinter dem Netz wie Steine aufs Feld fallen zu lassen, wahrscheinlich entsprach dieser Schlag am ehesten seinem Charakter; Jonas wußte auch die Kraft der Frauen für sich zu nutzen, indem er dieser Kraft nichts entgegensetzte, die Frauen mit dem eigenen Schwung ins Stolpern gerieten. Nur seine Ärztin nicht, die Ella, Urologin. Immer wieder wollte er diesen Namen abschütteln, unmöglich. Die Ella, das saß. Wie eine Erlösung darum, als nun auch die Frau am Nebentisch ihren Vornamen nennt, Christine.
     Christine? Er kannte die eine oder andere Christine, aber keine mit Aktentasche, gebildet, vermutlich, ihm überlegen, auch wenn sie jetzt, wie die anderen, gewöhnlichen Christinen etwas nicht findet in dieser Tasche, in der doch dieses Durcheinander zu herrschen scheint wie in jeder Frauenhandtasche. Nie hat er das verstanden, weshalb Frauen immer so einen Abfall mit sich herumtragen müssen, überholte Lottoscheine, leere Kugelschreiber, alte Strafzettel, alte Bonbons, alte Briefe, Schachteln ohne Inhalt, Gummibändchen; wie sie das bloß aushalten, dieses ewige Suchen in ihren Taschen, er hielte das nicht aus: immer das Eigentliche nicht finden; Jonas sieht zu den Männern mit den bunten Krawatten. Natürlich haben die ihn erkannt, ihn, der nie ganz oben war, trotz Begabung, warum, konnte keiner erklären, erst die Tat schien allen eine Antwort, aber sie hatte mit Jonas' Spiel nur im technischen Sinn zu tun, es war sein Schlagarm, der an dem Abend das Messer beschleunigte, dieser Arm, mit dem er gegen die Besten verlor, er wußte, warum. Um die niederzumachen, hätte er acht Stunden schlafen müssen, nur schlief er damals keine fünf, und wenn er dann aufwachte, war's oft zu spät zum Trainieren; in jedem Fall kämpfte er auf Tennisplätzen immer auch gegen die Müdigkeit, ja, manchmal schien es, als kämpfe er zuallerletzt gegen den Gegner, ein Wunder, daß er doch so viele bezwang, rasch oder gar nicht. Selten überstand Jonas mehr als zwei Sätze, oft humpelte er vorzeitig vom Platz, angeblich wegen Krämpfen, wer weiß, ob diese Dramen vergessen sind, die Männer mit den bunten Krawatten erinnern sich bestimmt noch daran. Kennen Sie die zwei? fragt Christine, und er schüttelt den Kopf. Aber die schauen beide so – Christine flüstert auf einmal –, die sind vielleicht schwul… Schwul? Jonas kann sich das nicht vorstellen, Christine muß lachen. Sie deckt ihre Notizen zu, sie nimmt sich eine Zigarette; das Gutachten, das kann sie
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