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Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Gegen Die Laufrichtung: Novelle

Titel: Gegen Die Laufrichtung: Novelle
Autoren: Bodo Kirchhoff
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nicht im Bett; da unterhält man sich erst lang und klug, und dann taucht, völlig überraschend, dort unten dieses Stöckchen auf. Er berührt Christines Arm, Christine weint noch einmal, sie gibt Roth eine kleine Ohrfeige, Roth küßt ihr die Hand, sein Blick geht zu Jonas, Und trotzdem zählt Christine zu diesen Frauen, für die alle Berge der Liebe versetzt sind; sie glauben nicht an Wunder, sie hoffen nur, daß welche geschehen. Und Sie, noch Hoffnung?
     Jonas antwortet nicht, er riecht an seinen Fingerspitzen, er schaut über den Platz, Christine, denkt er, während sich Roth wieder Notizen macht und ein Stillsteher vor dem Café seine Arbeit aufnimmt, Christine, denkt er verbissen; Roth schreibt jetzt nur wegen Jonas, der soll ihm zuschauen. Der Frankfurter Opernplatz feiert sich an diesem Septemberabend noch einmal selbst. Natürlich kann sich ein Platz, auch ein wahrhaft schöner, wovon dieser hier weit entfernt ist, nicht selber feiern, doch die, die ihn bevölkern, können tun, als habe er keinen einzigen Makel, als sei er der Piazza Navona oder der Plaza Major ebenbürtig, deren Nachteile niemand verhehlen würde, weil die Schönheit offensichtlich ist, notiert Roth und legt dann das Blöckchen zwischen Jonas und sich, wartet ab. Aber Jonas, schon im Rückstand dem Gefühl nach, 0:4, Aufschlag Roth, sieht zu dem Stillsteher, der in einer Art Bittstellung verharrt, die eine Hand leicht geöffnet, die andere schützend in Höhe des Magens, wobei er starr geradeaus blickt, ohne zu blinzeln, ohne sichtbar zu atmen, vor aller Augen eine Folter, und Jonas schaut auf das Treiben am Brunnen, auf dieses Leben, das ihm fremd ist, inzwischen, auf all die Menschen, die von heute sind, so scheint es, und nicht mal mehr von 89, als er noch dabei war, schaut ihnen zu, wie sie da sitzen, mit Stumpf und Stiel, teils barfuß, vor sich die Tageszeitung oder Allgemeine, bis der Kellner wiederkommt, den Hasen, die Ente, das Steak bringt.
     Roth schneidet sich gleich ein Stück Fleisch ab, Sie müssen meine Situation verstehen, sagt er zu Jonas, es wimmelt von Roths, eine gute Novelle, und ich gehöre zu den ersten zehn Roths. Er schiebt sich das Stück in den Mund, er beugt sich kauend zu Jonas, Nicht alle Frauen sehen das gern, wenn Männer essen, sonst hätte Christine wahrscheinlich ein Kind; seit fünfundzwanzig Jahren verhütet sie, solange kennen wir uns. Er sucht Christines Hand, er erkundigt sich nach der Tante, Christine bricht für einen Augenblick in Tränen aus. Sie erzählt, was geschehen ist, Roth drückt ihr die Hand, er bietet seine Begleitung an für das Begräbnis, er wendet sich erneut an Jonas. Auf welchem Platz standen Sie zuletzt, vierzig, fünfundvierzig, kann das sein? Also etwa meine Position unter den Roths; jeder Roth schreibt, und Leute wie Christine schweigen; hat sie von ihrem Kinderkäfig erzählt? Bei Gott ein Roman. Roth legt seinen Arm um Christine, er massiert ihr die Schulter, Christine schließt die Augen.
     Vielleicht mag sie dieses Quetschen und Reiben, vielleicht duldet sie's nur, Jonas kann das nicht entscheiden, er schaut woanders hin; starr sitzt er da und schaut zum Brunnen vor der Oper, sieht all die Pärchen, Gaukler, Unbeschwerten und haßt sich; Ihre Ente, sagt Roth, wird ganz kalt, Jonas hört es von fern: den jüngsten Tag wünscht er sich oder Christine, damit alles ende oder so werde wie früher. Früher – er weiß kaum mehr, wann – liebte er die Welt der Straße, ihm schauerte, wenn er abends, in fremden Städten, zwischen unsteten Lichtern ging, wenn ihm Zeitungsverkäufer die Schlagzeilen des Tages hinstreckten, nie ließ ihn das gleichgültig, was da gemeldet wurde, – ein Mensch sitzt auf dem elektrischen Stuhl, ein Hotel steht in Flammen, die Erde bebt; jetzt schauert ihm nur bei dem Gedanken, an diesem Brunnen vorbeigehen zu müssen, wenn der Abend beendet ist, wenn Christine und ihr Liebhaber aufbrechen, gemeinsam die Nacht zu verbringen, nur so kann sich Jonas das vorstellen: sie unter Roth, die Beine angezogen, in einem Taumel nach dem Tod der Tante, dem Taumel, der schon auf dem Klo begann. Er möchte aufstehen, Christine schütteln, aber Roth neigt sich, vertraulich, zu ihm. Und ein Roman ist bei Gott auch, was Sie erlebt haben, Aufstieg und Fall, Ruhm und bitteres Nichts, jemand sollte das erzählen, es wird sonst vergessen, es wächst Gras darüber, wie über diesen Ort hier – Roth deutet um sich – Gras gewachsen ist; vollkommen anders war das hier
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