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Lieblingslied: Roman (German Edition)

Lieblingslied: Roman (German Edition)

Titel: Lieblingslied: Roman (German Edition)
Autoren: K.A. Milne
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Präludium – Vorspiel
    ICH BIN EINE VERNÜNFTIGE PERSON … denke ich jedenfalls. Aus diesem Grund fühle ich mich hundsmiserabel bei dem Gedanken, dass ich vor ihrem Haus wie ein Irrer ausgerastet bin. Ich war nicht einmal betrunken, höchstens trunken vor Wut. Dabei allerdings habe ich mit meinem unbeherrschten Auftreten die gesetzliche Promillegrenze um ein Vielfaches überschritten.
    »Sie haben meine Familie auf dem Gewissen!«, schrie ich. »Sie mit Ihrem dämlichen Simsen! Ihren saublöden Handytexten!«
    Zugegeben, Letzteres klingt aus dem Zusammenhang gerissen unverständlich und abwegig, wie der reinste Irrsinn.
    »Mr. Bright, Sie haben von jetzt an genau zwei Sekunden, um zu verschwinden, bevor ich die Polizei rufe! Sie hat sich bereits entschuldigt. Mehr ist dazu nicht zu sagen!« Das war die Mutter, die wie eine Wildkatze ihr verletztes Junges fauchend beschützte.
    Aber ich war nicht gekommen, um mit der Mutter zu diskutieren. Ich war hier wegen der Tochter, einer Collegestudentin über zwanzig. Es machte mich wütend, dass sie noch bei den Eltern wohnte, die mir prompt in die Quere kamen, und ich meine Wut nicht ungebremst an ihr allein auslassen konnte. Sie stand zwischen Mutter und Vater auf der Veranda, nur wenige Schritte von mir entfernt und wirkte selbst an diesem warmen Sommerabend wie zu Eis erstarrt. Ich nahm ihre Haltung als weiteren Affront.
    Ich hatte sie mir an diesem Tag, nur Stunden zuvor, schon einmal vorgenommen. Damit waren wir schon in Runde Zwei. Und ungeachtet der Drohung ihrer Mutter, kam ich gerade erst richtig in Schwung.
    »Ach wirklich? Mit Ihnen bin ich noch lange nicht fertig! Zuerst möchte ich Ihnen mal etwas zeigen.« Mit einer schnellen Bewegung schwang ich meinen Aktenkoffer hoch, stützte ihn auf meinen Oberschenkel und ließ das Schloss aufschnappen.
    »Großer Gott, er hat eine Waffe!«, kreischte die Mutter. Sie und ihr Mann stellten sich vor die Tochter. Vermutlich wollten sie sie instinktiv vor allem Übel schützen, das ich mir in meinem temporär benebelten Gehirn für sie ausgedacht haben könnte.
    »Blödsinn! Halten Sie die Klappe!«, schnarrte ich. Es überraschte mich, dass sie mich tatsächlich für jemand hielten, der in solchen Situationen eine Waffe auspackte. Aber natürlich kannten sie mich nicht. War also vielleicht eine verständliche Reaktion. »Ich wollte nur zeigen, was Sie mir genommen haben.« Ich hob die Hand und wedelte mit einer Handvoll dessen, was mein Aktenkoffer enthielt, in der Luft herum.
    »Papier?« Das kam vom Vater – der viel zu unbedarft wirkte, um das Geld zu verdienen, das ein Haus wie das im Hintergrund kostete.
    »Das sind Briefe!«, brüllte ich zurück. »Und zwar richtige, echte Briefe. Einige davon kann man sogar riechen – dank des Parfüms meiner Frau. Kostbare Briefe. Briefe, die man immer wieder liest. Briefe, die man in die Hand nehmen kann. Keine dümmlichen Textfragmente aus dem Handy, die man auf Tastendruck gleich wieder löscht!«
    »Was wollen Sie damit sagen?« Das war Ashley – die Täterin.
    »Heute Morgen«, erinnerte ich sie. »Bevor Sie davongelaufen sind. Da haben Sie gesagt, Ihr Freund habe Ihnen eine ›Nachricht‹ geschrieben. In Wirklichkeit haben Sie eine dämliche SMS von ihm gekriegt, die Sie irrwitzigerweise auch noch beantwortet haben. Also zeige ich Ihnen jetzt, wie echte Briefe und ›Mitteilungen‹ aussehen. Die Art von liebevollem, geistigem Austausch, mit dem meine Ehe begonnen – und der sie vermutlich auch gerettet hat. Liebesbriefe! Und vergessen Sie das ja nie, denn die haben Sie mir für alle Zukunft genommen!«
    Mutter und Vater starrten mich nur sprachlos an. Ashley senkte den Kopf und weinte hörbar in der Dunkelheit.
    Was dann geschah, ist schwer zu erklären, denn es spielte sich hauptsächlich in meinem Kopf ab. Ich wandte nur einen Sekundenbruchteil den Blick von der Familie, um das Bündel Briefe in meiner Hand zu betrachten. Aber in diesem Augenblick stürzten Erinnerungen auf mich ein – angefangen von Annas erster kurzer Notiz an mich bis zur letzten. In der jüngsten Vergangenheit hatte ich sie nicht mehr so häufig erhalten, doch daran hatte hauptsächlich ich Schuld. Aber ich war im Begriff, mich zu ändern. Das schwöre ich – wie ich Anna geschworen habe, dass sich alles ändern würde.
    Ich habe mein Versprechen gebrochen – und sie hat dafür bezahlt.
    Ich richtete den Blick wieder auf die Familie, und plötzlich war mir alles, alles, was ich
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