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Lieblingslied: Roman (German Edition)

Lieblingslied: Roman (German Edition)

Titel: Lieblingslied: Roman (German Edition)
Autoren: K.A. Milne
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herausschreien, alles, was ich ihr vorwerfen wollte, einfach weg – war mir entfallen, ausgelöscht. Was wollte ich hier? Und vor allem, warum hatte ich mich von meinen Hassgefühlen dazu verleiten lassen, von Annas Seite zu weichen? Ich sollte bei meiner geliebten Künstlerin sein, sollte ihr beistehen, wenn sie ihren letzten Atemzug tat.
    »Es tut mir so leid«, hauchte Ashley.
    Genau das wollte ich nicht hören. Ich wollte nur wütend sein. Wollte, dass sie sich der Schwere ihrer Schuld bewusst wurde und mit ihr leben musste. Wollte, dass sie sich so elend fühlte wie ich. Aber vor allem wollte ich fort von hier und bei der sterbenden Hülle meiner Frau sein. »Das sollte es auch.« Damit wandte ich mich abrupt ab und ging.
    Eine halbe Stunde später saß ich neben Annas Bett auf der Intensivstation. Sie wusste nicht, dass ich da war. Und ich wusste nicht, ob sie da war. Rein physisch lag sie natürlich dort im Bett, atmete durch ein Beatmungsgerät, lebte eine geborgte Zeit, dank der Wunder moderner Medizintechnik. Aber was war mit dem Teil von ihr, dem wesentlichen Teil? Soviel ich wusste, existierte er bereits nicht mehr.
    »Anna.« Meine Stimme brach. »Ich bin wieder bei dir.«
    Keine Antwort. Ich hatte auch keine erwartet, versuchte es jedoch weiter.
    »Kannst du mich hören? Liebling, bist du noch da? Ich war kurz zu Hause. Hope geht es gut. Dein Bruder ist bei ihr. Großvater Bright auch. Sie beten für dich.«
    Zahllose Infusionen pumpten Flüssigkeiten in ihre von Blutergüssen übersäten Arme. Ich sah zu, wie sie durch die Schläuche tropften, und wartete auf eine Antwort – irgendeine Antwort.
    »Ich habe etwas gefunden«, holte ich schließlich aus. »Meinen Aktenkoffer. Den, den du mir geschenkt hast, als ich befördert wurde. Ich bin nur einmal damit ins Büro gefahren. Hast du gewusst, dass ich ihn für einen anderen Zweck missbraucht habe? Ich habe deine Briefe an mich darin aufbewahrt. Ich habe sie alle mitgebracht. Wie findest du das? Ich dachte … vielleicht magst du es, wenn ich sie dir vorlese …«
    Ich hätte am liebsten geheult.
    Nein, das war nicht korrekt.
    Ich habe geheult. Besonders als ich auf die erste Nachricht von Anna gestoßen bin. Von Liebe war damals nicht die Rede gewesen, aber der Brief hatte den Weg geebnet für eine Liebe, die wachsen konnte. Aber das kam erst später. Während ich jetzt auf Anna herabblickte, schien es Lichtjahre her zu sein.
    Die Worte ihrer Nachricht versetzten mich weit zurück in eine andere Zeit, an einen anderen Ort. In ein anderes Land, eine fremde Sprache. Zurück zu einer Hoffnung, einem Gebet und einer Gitarre.
    Damals waren wir jung und naiv. Alles schien möglich zu sein.
    Wir verliebten uns.
    Wir wussten kaum, was Liebe war, aber das war unwichtig, denn wir hatten einander und waren glücklich.
    Wir hatten kein Geld, aber das spielte keine Rolle, denn wir hatten uns und waren glücklich.
    Mit der Zeit mussten wir erkennen, dass im Leben nicht alles nach Plan läuft, aber auch das war unwichtig. Wir hatten noch immer einander und waren noch glücklich.
    Womit ich überflüssigerweise umständlich sagen wollte, dass ich alles vermasselt habe.
    Ich habe letztendlich zugelassen, dass das Streben nach Oberflächlichkeiten über die eigentlich wichtigen Dinge im Leben die Oberhand gewann. Ich hatte den Blick dafür verloren – ja vielleicht ganz vergessen – wie gut die Anfangszeit gewesen war, damals als das Leben noch so einfach erschien. Einfach … und vollkommen.
    Annas Briefe erinnerten mich an alles, was wir hatten und an alles, was ich zu verlieren drohte. Ich wünschte, ich könnte ihr sagen, wie leid es mir tat. Natürlich habe ich es ihr gesagt, immer wieder, während sie dort lag, aber sie hörte mich nicht. Sie lag nur bewegungslos da, atmete künstlich durch eine Maschine.
    »Erinnerst du dich noch, wie es gewesen ist?«, fragte ich sie und trocknete die frischen Tränen mit der Manschette meines Hemds. »Ich hielt es für ein Märchen – eine ›Es-war-einmal-Geschichte‹. Wie sind wir nur von dort bis hierher gekommen, Anna? Wie nur? Was ist aus unserem ›Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage‹ geworden? Wie konnte ich das nur zulassen? Ich wünschte, wir könnten die Zeit zurückdrehen und noch einmal ganz von vorn anfangen. Vielleicht würde ich dann alles richtig machen …«
    Lange bevor unser Leben zu Bruch ging, träumte meine Frau davon, Bücher zu schreiben und zu illustrieren. Irgendwie ist es nie dazu
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