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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel
Autoren: Gunnar Staalesen
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is deine Tochter – und tu nich so, als wüßteste das nich!«
    Er sah mich an, als hätte er mir etwas Neues erzählt. Ich starrte ihn nur stumm an.
    »Meine eigene Tochter! – Ich hätte ihm in die Visage springen sollen, natürlich, aber ich schaffte es einfach nicht. Ich war gelähmt. Ich – ich erinnere mich nicht mehr. Nachher, nachher löste sich einfach alles auf, buchstäblich. Wir gingen alle unsere eigenen Wege und später … Später standen wir nie wieder zusammen auf einer Bühne. Wir sahen uns kaum. Es gab nicht mal eine Diskussion darüber. Als hätten wir eine stumme Übereinkunft getroffen … an dem Abend … in dem verdammten Kinderzimmer.«
    »Aber du mußt es doch – geahnt haben? Du wußtest doch, daß du und Anita …«
    »Es geahnt? Gewußt? Sie hat nie was gesagt. Er auch nicht, bis dahin! Eine zufällige Beziehung – ein- oder zweimal miteinander geschlafen – konnte ich ahnen, daß es solche Konsequenzen haben würde?«
    »Aber jetzt hast du deine Rache bekommen?«
    Er sah mich verwirrt an. »Meine Rache? Was meinst du?«
    »Sie sind alle tot, jetzt. Alle die anderen. Außer dir.«
    »Aber du meinst doch wohl nicht, daß ich sie …?«
    Ich beugte mich vor. »Na ja? Warst du es nicht? Hast du sie nicht umgebracht?«
    »Sei nicht kindisch, Varg! Du kennst mich doch! Sind wir nicht zusammen aufgewachsen? Waren wir nicht Schulkameraden, haben unsere ersten Flaschen geteilt, unsere besten Mädchen?«
    »Ich dachte, ich würde dich kennen.«
    »Aber hör mal zu … Ich habe auch nachgedacht. Wenn all das irgendwie zusammenhängt, warum ist dann nichts passiert, bis ziemlich genau zehn Jahre später, wie bei einer Art – Jubiläum?«
    »Tja, warum? Genau dasselbe habe ich mich auch gefragt, Jakob. Hast du die Antwort?«
    »Ich habe mich gefragt: Was ist 1985 passiert?«
    In weiter Ferne erahnte ich die Konturen einer Landschaft. Gespannt sagte ich: »Ja? Was denn?«
    Er dämpfte die Stimme und schielte zur Tür. »1985 ging Rebecca zu Berge Brevik – und erzählte ihm alles!«
    »Alles…«
    »Genau! Um zu erklären, warum sie meinte, so gute Gründe dafür zu haben, mich zu verlassen. Und Berge Brevik – glaub mir – ist ein ziemlicher Moralist, Varg!«
    »Du meinst doch nicht …«
    »Wenn er sich selbst als Gottes Werkzeug auf Erden sehen könnte, dann würden ihm die – merkwürdigsten Dinge einfallen.«
    Ich seufzte schwer und setzte mich im Sofa zurück. Ich sah sie vor mir wie in einem Film, wie sie in der spartanischen Pfarrstube saßen: Rebecca vornübergebeugt, eifrig, erregt – Berge Brevik mit geradem Rücken, zurückzuckend, schockiert. »Und Ruth«, sagte ich dünn. »Hast du jemals Kontakt zu ihr gehabt? Danach?«
    Er sah mich an. »Wie könnte ich?«
    Ich starrte zurück. »Nein. Wie?«
    »Es ist doch so klar, Varg! Die Engelbilder in der Post. Wer anderes als ein kranker Mensch, ein Mensch, der in seinem Moralismus gefangen ist, hätte so etwas verschicken können?«
    Ich stand abrupt auf. »Ich muß gehen.«
    Er erhob sich langsam.
    »Bleib sitzen, Jakob. Ich finde allein raus.«
    Er stand trotzdem auf. »Wann seh’ ich … sehen wir … dich wieder, Varg?«
    »Ich weiß es nicht, Jakob. Es könnte lange dauern, fürchte ich. Sehr lange.«
    Ich ging zur Tür. Er blieb stehen. Ohne noch etwas zu sagen, ging ich hinaus in den Flur und schloß die Tür hinter mir.
    Sie hatte mich gehört. Jetzt stand sie in der Küchentür, mit Mehl an den Händen und einer Wand von Keksduft hinter sich. »Gehst du schon – Varg?«
    Ich nickte stumm.
    Sie schloß die Tür ganz hinter sich, blieb aber stehen, die Hand an der Klinke. »Ich hoffe, du verstehst – daß es so am besten ist.«
    Ich wartete auf die Fortsetzung.
    »Für die Kinder. Für uns alle. Wegzugehen ist so leicht geworden. Zurückzukommen ist viel schlimmer. Aber ist nicht die Kunst zu verzeihen die edelste aller menschlichen Tugenden?«
    Ich antwortete nicht, sondern sah einen Augenblick zur Seite. Dann fing ich sie wieder mit meinem Blick ein. Sie stand drei, vier Meter von mir entfernt, mit zerzaustem Haar, in einer einfachen, rotweiß karierten Bluse und alltäglichen Jeans, mit Mehl an den Händen, ein paar Flocken neben dem Kinn und dem Widerschein einer Kindheit im Gesicht.
    »Es war das Beste so, Varg. Wir gehören zusammen, Jakob und ich. Im Guten wie im Bösen.«
    Ich räusperte mich kläglich. »Und für uns andere ist alles vorbei?«
    »Was nie gewesen ist, kann auch nicht vorbeigehen«, sagte sie, mit
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