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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel
Autoren: Gunnar Staalesen
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grünen Schal eng um den Hals und blieb stehen, in passiver Haltung, und wartete auf neue Instruktionen.
    Berge Brevik sah mich an. »Das gilt auch für dich, Veum.«
    »Was – gilt für mich?«
    »Wenn du jemals Licht im Dunkel suchst, dann – komm zu mir.«
    Ich schüttelte mild den Kopf. »Ich glaube nicht …«
    Er trat dicht an mich heran, mit dem Rücken zu Sissel, und sagte leise, als wolle er nicht, daß sie es hörte: »Auch du kehrst ihm den Rücken zu, Veum, auch du.«
    »Was meinst du?«
    »Ich hab’ ein Bild vor Augen. Von der Rückkehr Jesus.«
    »Ja?«
    »Alle erwarten, daß er von Osten kommt, im Licht des Sonnenaufgangs. Erwartungsvoll wenden sie ihre Gesichter in die Richtung, auf Ulriken. – Aber dann kommt er von Westen, wo ihn keiner sieht. Ich sehe ihn kommen in der Wolke, am Himmel über Askoy, während ihm alle den Rücken zukehren – wie ein Dieb in der Nacht. Wie es geschrieben steht.«
    »Ich werd’ wohl nach Hause gehen und die Einbruchssicherung kontrollieren müssen.«
    »Tu das, Veum. Sofort. Morgen kann es zu spät sein.«
    Ich nickte ihm zu, als eine Art Bestätigung. Dann trat ich einen Schritt zur Seite, richtete meinen Blick auf Sissel, streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »Gehen wir?«
    Sie nickte automatisch.
    Dann ging sie vor mir aus dem Büro hinaus.
    Berge Brevik zeigte mir seine Handflächen und sagte: »Und hier stehe ich, mit leeren Händen.«
    »Und ich gehe, mit allzu vollen.«

50
    Als ich endlich wieder ins Büro kam, öffnete ich eine Flasche Alte Reserve die ich eigentlich bis Heiligabend hatte aufheben wollen, und das war nicht die letzte Flasche, die ich in dem Winter öffnete. Es wurde ein langer Winter.
    Sie fanden das Messer in ihrem Zimmer. Aber der Mord an Johnny Solheim war auch das einzige, was sie ihr anhängen konnten Die anderen blieben für immer im Dunkeln. Sie gestand nie mehr, als daß sie ihnen die Briefe mit den Engelbildern geschickt hatte.
    Sie kam nie vor Gericht. Sie war längst in ein Dunkel gegangen, das größer war als das, was ihre Schwester je erlebt hatte, schwerer als das, was die Mutter noch viele Jahre lang würde ertragen müssen.
    Aber diese Dezembertage taten auch etwas mit mir.
    Nachdem ich Weihnachten mit Thomas verbracht hatte, begegnete ich einem Bataillon von Flaschen, die mir wie treue Reservesoldaten weit ins neue Jahr hinein folgten.
    Ich vertrieb mir die Zeit im Büro, steckte Tag um Tag in die Taschen, um sie nie wieder herauszuholen, schrieb meine Notizen auf die Rückseite der Tapete, auf die Wolken, die vorbeiwehten, und an andere nützliche Orte.
    Ein paarmal lud ich Karin Bjørge zum Essen ein, ohne sie je mit zu mir nach Hause zu nehmen. Ein paarmal schaute ich bei Laila Mongstad im Büro vorbei, und fragte mich, wie es wohl wäre, mit ihr zu schlafen, ohne etwas in der Richtung zu unternehmen. Von Jakob und Rebecca sah ich nichts.
    Es kamen ein paar Klienten, und ein paar Aufträge zogen vorbei.
    Aber den größten Teil der Zeit verbrachte ich allein, und die einzigen, mit denen ich aufwachte, waren leere Flaschen.
    So verging der Winter, und schließlich wurde es Frühling. Ein Licht wie aus Phosphor überschwemmte eine frischgewaschene Stadt, aber wenn ich hinausging, tat es weh. Denn die Frühlingssonne ist wie eine Speerspitze ins Herz, und der Frühling ist die grausamste aller Jahreszeiten: die Zeit, in der die ganze Natur sich erneuert, während du selbst nur ein Jahr älter geworden bist.
    Und die ganze Zeit dachte ich an Sissel. Es verging nicht ein Tag, an dem sie nicht in meinen Gedanken war. Sie war ein neuer Flüchtling in einem unfreiwilligen Exil. Noch ein Mensch, der endgültig die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein überschritten hatte. Noch ein gefallener Engel.
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