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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel
Autoren: Gunnar Staalesen
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dreier Kandelaber mit je drei Kerzen erleuchtet, die auf dem alltäglichen Schreibtisch hinter ihnen standen.
    Sissel kniete am Boden, die Hände vor der Brust gefaltet. Berge Brevik war vor ihr auf die Knie gegangen und knetete ihren Kopf zwischen seinen Händen, während er nach oben starrte, zur Decke. Die Adern auf seinen Händen traten deutlich hervor, und die Sehnen an seinem Hals waren geschwollen. Das Blut pochte rhythmisch an seinen Schläfen, und seine Haut zeigte eine Röte mit einem hingebungsvollen Schimmer.
    Als ich eintrat, wandte er mir blind das Gesicht zu. Seine Stimme ging noch eine Tonstufe höher. »O Herr, Du allmächtiger Gott – in Deinem Namen und im Namen Deines Sohnes, des Gekreuzigten, Jesus Christus – und bei der Kraft des Heiligen Geistes – bitte ich Dich … Vertreibe die Dämonen aus dieser jungen Frau! Treibe die bösen Geister aus! Treibe sie aus!«
    Ein Zittern durchfuhr ihn, und es war, als würde der ganze Raum aufgerissen. Es war Sissel, die schrie, so gellend, so schneidend und so furchtbar einsam, wie ich niemals vorher jemanden hatte schreien hören.
    Ein Zucken durchlief sie, und sie klammerte sich an den Pfarrer.
    Dann fiel sie zusammen, in einem Weinkrampf, an seiner Brust.
    Ein unendlich friedlicher Ausdruck erschien auf Berge Breviks Gesicht.
    Ich selbst war im Laufe von zehn Sekunden tropfnaß von Schweiß geworden.
    Berge Brevik begegnete meinem Blick und sagte: »Sie ist frei! Der Herr hat sie befreit! Der Herr sei gepriesen! Amen – Amen – Amen.«
    Es wurde still.
    Wir standen da, in gefrorener Positur. Berge Brevik auf den Knien, Sissel wie ein leerer Sack in seinen Armen, ich gebannt an der Tür.
    Dann löste ich die Verzauberung, indem ich mich umdrehte, nach der Klinke griff und die Tür hinter mir schloß.
    Berge Brevik löste sich vorsichtig von Sissel, die auf Knien hocken blieb, zusammengesunken, das Gesicht in den Händen, während ihr Weinen langsam verebbte.
    Berge Brevik ging zum Lichtschalter neben der Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung an.
    Das Büro wurde alltäglich um uns herum, deutlich wie eine Zeichnung.
    Er ging zu den drei Kandelabern und blies die Kerzen aus, eine nach der anderen, wie bei einer rituellen Handlung.
    Dann wandte er sich mir zu, als sei ich zu ihm gekommen, um wegen eines Problems um Rat zu suchen.
    Ich sah auf Sissel hinunter, ihren zarten Nacken, den Jungmädchenpulli,ihren Po in den engen Jeans, herzförmig, wie sie da saß, vornübergebeugt, Kräften außerhalb ihrer selbst ergeben, so wie sie es im Grunde schon gewesen war, viele Jahre lang.
    Das Gesicht zwischen den Gitterstäben. Die Vierjährige, die etwas mitangesehen hatte, etwas, das so groß und schwarz und unfaßbar war, daß es eine unabwendbare Psychose in ihr wachsen ließ, einen Gedanken, den sie nicht verstehen konnte – und gegen den sie auch nichts tun konnte –, bis sie alt genug geworden war. Und das war es, was 1985 geschehen war. Sissel war alt genug geworden. Um Briefe mit Engeln drauf zu verschicken. Und die aufzusuchen, an die sie die Briefe verschickte.
    Berge Brevik las meinen Blick und räusperte sich. »Du weißt alles?«
    Ich nickte. »Ruth ist verhaftet. Sie hat alles gestanden.«
    Sissel hob den Kopf. Die Hände fielen von ihrem Gesicht. Der Nacken verschwand unter dem Haar.
    »Ich habe es schließlich begriffen«, fuhr ich fort. »Daß es nur einen Menschen auf der Welt gab, den Ruth so sehr liebte, daß sie für ihn die Schuld auf sich nehmen würde.«
    Sissel drehte den Kopf herum und sah mich an. Es war ein Gesicht, das gleichzeitig kindlich und alt war, ein Gesicht, das viel zu lange viel zuviel gewußt hatte, das aber nie ganz dem Erlebnis dieses Oktoberabends vor elf Jahren entwachsen war.
    »Du hast es Ruth erzählt, alles – stimmt’s?«
    Sie nickte.
    »Und als sie in der Zeitung von Jan Petter Olsen las, kam sie zu dir – versuchte, dich davon abzubringen?«
    Sie nickte wieder.
    »Aber da war es schon – zu spät?«
    Sie nickte nicht mehr, starrte nur vor sich hin.
    »Wollen wir hinfahren und ihnen erzählen, wie es wirklich war?«
    Sie stand auf und nickte, noch einmal. Dann ging sie zu dem Stuhl, auf dem ihre Daunenjacke lag, beugte sich hinunter und hob sie auf.
    Berge Brevik folgte ihr mit den Blicken. »Vergiß nicht, daß du jetzt befreit bist, Sissel. Der Herr hat seine Hand über dich gehalten. Wohin du auch gehst, wird Er immer bei dir sein.«
    Sie zog den Reißverschluß ihrer Jacke hoch, band sich den
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