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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel
Autoren: Gunnar Staalesen
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du nicht zur Polizei gegangen bist … Hattest du nie den Gedanken, die Rache selbst in die Hand zu nehmen?«
    Sie nickte. »Doch. Am Anfang, da dachte ich oft … Daß sie das bekommen sollten, was …«
    »Und später?«
    »Später verblaßte auch das Bedürfnis.«
    »Und du hast nie daran gedacht, daß vielleicht jemand anderes mit entsprechenden Gedanken herumlief?«
    »Ruth? Du meinst doch nicht – Harry und Arild – nicht – alle zusammen?« Sie sah mich bestürzt an. »Daß sie in einem aufgewühlten Moment den Wunsch hätte, mit Johnny abzurechnen, das kann ich verstehen. Er war trotz allem viele Jahre lang ihr Vater. Aber die anderen … das ist zu sinnlos.«
    »Für einen verstörten Geist? – Jemanden, der längst aus der Welt der Realität geflohen ist?«
    Sie hob machtlos die Arme. »Ich kann es einfach nicht glauben. Sie war immer ein – so stilles Kind!«
    »Mit gutem Grund, wie es scheint.«
    Sie nickte düster »Sie trug die furchtbaren Gedanken – das schreckliche Geheimnis – mit sich herum, all die Jahre. Und ich war dabei und hatte keine Ahnung!« Ein vom Weinen erstickter Schluchzer kam aus ihrer Kehle. »Wie konnte er nur … Wie konnte er nur!«
    Ich sah sie an. Ich kannte sie nicht gut genug, ahnte nicht, welche Stärke sie möglicherweise verbarg, welche bodenlosen Gefühle sie bloßlegen würde, wenn sie ihre Haut zur Seite breitete und nachsah. »Wenn du es getan hast, Anita, dann hast du keine Wahl. Geh zur Polizei und erzähl ihnen alles. Wenn nicht, muß Ruth für deine Unterlassungssünden büßen, schon wieder.«
    Sie stand auf, mit einer so ruckartigen Bewegung, daß der Stuhl unter ihr krachte. »Aber ich war es nicht, Veum! Ich war es nicht!«
    Ich stand auch auf. Dann nickte ich. »Nein, ich glaube dir. Aber ich glaube auch nicht, daß es Ruth war.«
    Sie sah mich an, mit einer neuen Hoffnung im Blick. »Nein?«
    »Nein.«
    Aber als ich ging, wußte ich, daß auch diese Hoffnung sterben würde und sie in eine tiefere und undurchdringlichere Dunkelheit versinken würde, als sie es sich in den schlimmsten Träumen hatte vorstellen können.
    Auf dem Weg nach draußen begegnete ich wieder ihrer Katze. Sie stand auf halber Treppe und blinzelte mir mit den grünen Augen entgegen wie ein Hauswart, der einen ungehobelten Gast rausschmeißen will.
    Draußen knisterte der Boden von Schneekristallen. Da lagen sie, wie längst heruntergeholte Sternschnuppen, Sterne, die ihre Bahnen beendet hatten.
    Auf der anderen Seite des Fjords lag Bergen, unendlich bezaubernd in seiner gefrorenen Schönheit, wie eine unnahbare Prinzessin auf der Spitze eines Glasberges. Wenn es nicht ein Engel war.

49
    Die Haustür war unverschlossen. Ich ging hinein, ohne den Schnee von den Schuhen zu treten. Er blieb wie Fußspuren auf dem Boden hinter mir liegen.
    Ich hatte die laute Stimme schon draußen gehört. Jetzt blieb ich vor der Tür zur Pfarrstube stehen und lauschte, als sei ich dort zu Eis erstarrt, oder zu Salz, oder wozu man erstarrt in Kreisen wie diesen.
    Ich erkannte Berge Brevik kaum wieder. Seine Stimme war lauter und dünner, als ich sie vorher gehört hatte, und nur seine rollenden More-R’s verrieten ihn.
    »O Herr!« gellte es durch die graue Tür, an der auf einem ovalen weißen Schild BÜRO stand. »Steige herab aus Deinem hohen Saal und gib dieser Deiner sündhaften Tochter die Hilfe und Unterstützung, die zu erbitten sie zu Dir gekommen ist. Sieh sie an, wie sie hier liegt, der Reue ergeben, im Gebet um Vergebung! Befreie sie von den bösen Geistern, Du, der alle Macht besitzt, im Himmel wie auf Erden, Du, der Du die aufrührerischen Engel zurück in das Feuer stößt, in das sie gehören, der die bösen Geister dorthin zurückschickt, woher sie gekommen sind! Du hast mir schon früher geholfen! Laß Deine Kraft noch einmal durch meine Hände strömen und in dieses unglückliche Menschenkind! Laß die bösen Gedanken und die grausamen Taten aus ihr entweichen, und nimm sie – wenn ihre Zeit gekommen ist – bei Dir auf, und laß sie ruhen in Deinem Schoße – im Licht Deiner Vergebung, im Klang Deiner Chöre, in …«
    Jetzt hörte ich eine andere Stimme, ihre, schluchzend und unverständlich, wie verwirrtes Geplapper, nebelige Zungenrede, mutterlose Hundewelpen.
    Ich legte die Hand auf die Klinke und drückte sie vorsichtig hinunter.
    Auch diese war unverschlossen.
    Dann öffnete ich sie und trat in den Raum.
    Das Büro lag in düsterem Halbdunkel, nur von dem flackernden Schein
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