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Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel
Autoren: Gunnar Staalesen
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Meisterdetektiv geht’s gut? Keine neuen Leichen auf der Liste?« Er dämpfte die Stimme. »Jan Petter ist nicht …«
    »Das weißt du selbst am besten. Es stand was über ihn in deiner eigenen Zeitung.«
    »So schlechte Zeitungen lese ich nicht«, sagte Paul Finckel.
    Jakob fuhr dazwischen: »Wißt ihr, woran er gestorben ist?«
    Finckel nickte. »Er ist von einem Gerüst gefallen. Er war Bauarbeiter. Von achtzehn Meter Höhe auf den Beton. Hatte nicht mal mehr Zeit, ein Vaterunser zu beten.«
    Das ließ uns verstummen, alle drei.
    Die Türen der Kapelle wurden geöffnet, und man ging langsam hinein. Die beiden Kapellen lagen mit den Eingängen zueinander. Die kleinere hieß Hoffnung. Sie war für die Auserwählten. Die größere hieß Glaube, reserviert für die große, weiße Herde. So sah es vor einem gewöhnlichen norwegischen Gottesdienst an einem ganz normalen Sonntag hier nicht aus. Aber so ist der Tod. Er führt so manches ad absurdum.
    Jan Petter sollte im Glauben beigesetzt werden, und der Raum wurde ungefähr halb voll. Ganz vorne rechts saßen die nächsten Angehörigen. Er hatte eine Frau und zwei halbwüchsige Kinder. Ich erkannte seine Eltern wieder: weißhaarig und mit durch den plötzlichen Verlust schweren Gliedern. Der Rest schienen Verwandte, Arbeitskollegen und Nachbarn zu sein. An einer Wand stand eine Gewerkschaftsfahne. Der Sarg war mit einem üppigen Gesteck mit hellroten Rosen geschmückt, und der Boden davor war bedeckt mit Kränzen und Sträußen.
    Die Kapelle war fünfzehn Jahre alt. Das Interieur wurde geprägt durch naturfarbenes Holz und mit Naturstein durchbrochenem grauen Beton. Über der Kanzel hing ein einfaches Kreuz aus schwarzem Gußeisen.
    Draußen vor den hohen Fenstern erfaßte der Wind die Rhododendronbüsche und die nackten Bäume. Dieses Wetter kannten die Bergenser nur zu gut: zwei-drei Grad über null, grauweißer Schneeregen und ein scharfer Wind aus Südwest.
    Der Pfarrer kam herein und nahm Platz. Auf der Galerie über uns stimmte ein einsamer Violinist eine traurige Melodie an, die ich nicht zuordnen konnte.
    Ich sah mich vorsichtig um. Wir drei waren die einzigen aus der Klasse. Einige wohnten vielleicht nicht mehr in der Stadt. Andere hatten nicht auf den Namen in der Todesanzeige reagiert. Die anderen hatten sich nicht die Zeit genommen, um ihn das erste Stück des Korridors auf dem Weg zum Oberlehrer zu begleiten.
    Die Melodie war zu Ende. Der Pfarrer erhob sich. Es war ein verhältnismäßig junger Mann, mit einem kindlichen Gesicht, einer großen Brille und einem Pony. Auf mich wirkte er eher wie ein Konfirmand als wie ein Kaplan. Aber seine Stimme klang dunkel und bestimmt, als er sagte: »Wir haben uns hier heute zusammengefunden, am Sarg von Jan Petter Olsen …«
    Und meine Gedanken begannen zu wandern, zurück in unser Klassenzimmer. Noch einmal sah ich die Klasse von fast dreißig Jungen vor mir, die sieben Jahre lang, von 1949 bis 1956, zusammen die Schulbank gedrückt hatten.
    Ich saß an einem der Fenster und hatte den Puddefjord im Blickfeld. Wenn der Unterricht zu langweilig war, glitt mein Blick nach draußen, wo Schiffe jeder Größe vorbeistampften: Schlepper und Askoyfähren, Lastschiffe und Passagierdampfer. Sie nahmen Kurs auf exotische Ziele wie Kleppesto und Rio de Janeiro, und sie riefen die unvermeidbare Vorstellung von Trockenfisch und Bananen wach. Den Duft von beidem. Den Anblick von Säcken und weißen Holzkisten mit blauen und gelben Deklarationszetteln. Das eine wurde beladen, das andere gelöscht. Hafenspeicher mit Kränen und Taljen, die an Galgen erinnerten. Schiebetüren, die in die leere Luft geöffnet wurden. Wir Kinder alle, mit ausgefahrenen Stielaugen, oben auf der Kante des Nordnesparks, geschützt hinter einem Zaun, meilenweit entfernt von Kleppesto und Rio de Janeiro.
    Die Klasse um mich herum. Jakob in der ersten Reihe. Er wohnte ganz am Rand des Einzugsgebiets der Schule, am Ende der Skottegate, an einer der Ecken zur Claus Frimannsgate. Er spielte Klavier und kassierte immer die besten Noten. Und dann Benny, der eigentlich Bernhardt hieß und der Rowdy der Klasse war: zehn Kilo schwerer als die meisten von uns, rauchte mit zehn, trank mit dreizehn, fuhr mit fünfzehn zur See und endete später als einer der sichersten Baggerführer der Stadt. Da war Paul Finckel in der letzten Reihe, kurzatmig und pummelig, schon damals ein witziger Hund, mit schlagfertigen Kommentaren für ein schallend lachendes Publikum. Da war
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