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Schiffbruch Mit Tiger

Schiffbruch Mit Tiger

Titel: Schiffbruch Mit Tiger
Autoren: Yann Martel
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Vorbemerkung des Autors
    Dieses Buch ist entstanden, weil ich hungrig war. Das muss ich erklären. Im Frühjahr 1996 kam in Kanada mein zweites Werk, ein Roman, heraus. Es war kein Erfolg. Rezensenten wussten nichts damit anzufangen oder verurteilten es mit halbherzigem Lob. Leser ließen es liegen. Ich mühte mich, im Medienzirkus den Clown oder den Trapezkünstler zu spielen, aber es half alles nichts. Das Buch verkaufte sich nicht. In den Läden standen die Bücher in langen Reihen wie Schuljungen, die zum Fußball oder Baseball angetreten sind, und meines war der picklige, ungelenke Knabe, den keiner in seiner Mannschaft haben wollte. Es verschwand schnell und in aller Stille.
    Allzu viel machte mir das Fiasko nicht aus. Ich hatte schon mit einer anderen Geschichte begonnen, einem Roman, der 1939 in Portugal spielte. Aber irgendwie war ich unruhig. Und ich hatte ein wenig Geld.
    Also flog ich nach Bombay. So abwegig, wie es sich anhören mag, ist das nicht, wenn man sich erst einmal drei Dinge klarmacht: Dass es kein lebendiges Wesen gibt, dem eine Dosis Indien nicht die Unruhe austreibt; dass man dort auch mit wenig Geld weit kommt; und dass ein Roman, der im Jahr 1939 in Portugal spielt, nicht unbedingt viel mit Portugal und 1939 zu tun haben muss.
    Ich war schon einmal in Indien gewesen, fünf Monate im Norden des Landes. Bei jener ersten Reise hatte ich keine Ahnung, was mich auf dem Subkontinent erwartete. Oder besser gesagt, ein einziges Wort hatte ich zur Einstimmung. Als ich einem Freund, der das Land gut kannte, von meinen Reiseplänen erzählte, meinte er: »Die sprechen ein ulkiges Englisch in Indien. Sie mögen Wörter wie bamboozle.« Das fiel mir wieder ein, als mein Flugzeug in Delhi zur Landung ansetzte, und das Wort bamboozle war das eine, was mich auf den Ansturm, den Lärm, die Lebendigkeit des Irrsinns Indien vorbereitete. Bisweilen machte ich Gebrauch von dem Wort, und ich muss sagen, es hat sich gut bewährt. Zu einem Schalterbeamten am Bahnhof: »Das hätte ich ja nicht gedacht, dass die Fahrkarte so teuer ist. Ihr wollt mich doch nicht bamboozeln, oder?« Er lächelte und antwortete in seinem Singsang: »Nein, Sir! Hier wird nicht bamboozelt. Unsere Preise sind korrekt.«
    Jetzt beim zweiten Mal wusste ich besser, auf was ich mich einließ, und ich wusste auch, was ich wollte. Ich wollte mir ein Quartier in einer alten hill station suchen, einem Kurort in den Bergen, und dort meinen Roman schreiben. Ich sah es vor mir, wie ich an einem Tisch auf einer großen Veranda sitzen würde, meine Notizen vor mir ausgebreitet und dazu eine dampfende Tasse Tee. Durch die grünen Hügel zu meinen Füßen zögen dicke Nebelschwaden, und die schrillen Schreie der Affen klängen mir in den Ohren. Das Wetter wäre perfekt: Morgens und abends ein dünner Pullover, tagsüber kurze Ärmel. Solcherart ausgestattet, würde ich zur Feder greifen und im Dienste einer höheren Wahrheit aus Portugal eine Fiktion machen. Denn darum geht es doch in Romanen, nicht wahr? Darum, die Wirklichkeit exemplarisch umzuformen. Sie so zu drehen, dass ihr Wesen hervorkommt. Hätte ich dafür nach Portugal fahren sollen?
    Meine Zimmerwirtin würde mir Geschichten aus der Zeit erzählen, als sie die Engländer aus dem Land warfen. Wir würden besprechen, was es am nächsten Tag zum Mittag- und Abendessen gab. Wenn mein Arbeitstag zu Ende war, würde ich in den sanften Hügeln der Teeplantagen spazieren gehen.
    Leider hatte der Motor meines Romans seine Mucken, er spuckte und spotzte, und schließlich ging er ganz aus. Es geschah in Matheran, nicht weit von Bombay, einem kleinen Erholungsort in den Bergen, wo es ein paar Affen gab, aber keine Plantagen. Nur der verkrachte Schriftsteller kennt das Gefühl. Man hat ein gutes Thema, man schreibt gute Sätze. Man hat sich Gestalten einfallen lassen, die so vor Leben strotzen, dass sie eigentlich Geburtsurkunden bräuchten. Man hat sich eine Handlung für sie ausgedacht, die profund, einfach und ergreifend ist. Man hat recherchiert, hat alle Fakten beisammen — Geschichte, Gesellschaft, Klima, Küche —, alles, was man braucht, damit die Sache sich wirklich echt anfühlt. Die Dialoge sind das reinste Pingpongspiel und knistern nur so vor Spannung. Die Beschreibungen könnten farbiger, kontrastreicher nicht sein, die Details nicht aussagekräftiger. Der Erfolg scheint garantiert. Aber wenn man dann alles zusammenzählt, kommt nichts dabei heraus. So viel versprechend es aussah - es
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