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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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– auch dann, wenn er selbst noch nie im Leben in Shaoxing war. »Heimat« und »Familie« teilen sich im Chinesischen dasselbe Wort: jia .
    Wer die wunderbaren alten Charlie-Chan-Krimis kennt, der weiß, dass chinesische Eltern ihre Kinder gerne herbeizitieren mit Rufen wie »Sohn Nummer zwei!«. Die praktische Durchnummerierung des Nachwuchses hat sich über die Zeit des Schwarz-Weiß-Films hinausgerettet, und so verzichten heute noch in vielköpfigen Familien auch die Geschwister untereinander auf den Gebrauch des Vornamens und rufen einander stattdessen »Kleine Schwester Nummer vier!«, »Großer Bruder Nummer drei!« oder einfach »Alter Großer!«. Letzterer ist Bruder Nummer eins und steht der ganzen Schar vor. Mit der Geburt landet jeder auf seinem Platz in der Familienhierarchie und findet diesen Rang in seiner Anrede wieder. Im Laufe der Zeit entstand so ein ausgetüfteltes System der gegenseitigen Titulierungen, das den Platz eines jeden Einzelnen genau definiert, eingeheiratete Ausländer bei Familienfesten jedoch regelmäßig in tiefe Verwirrung stürzt. Ein Vetter ist eben nicht nur ein Vetter, sondern der Sohn vom Bruder des Vaters, der älter ist als du ( tang xiong ) – oder aber der Sohn vom Bruder des Vaters, der jünger ist als du( tang di ). Wenn es ein Sohn vom Bruder der Mutter ist, heißt er natürlich wieder anders. Ein jeder Titel macht klar, zu welcher Generation der Betreffende gehört, ob er zur väterlichen Linie zählt, ob er angeheiratet ist oder dem eigenen Stamm entsprungen und wo er in der Altersrangfolge steht. Noch die Frau des älteren Bruders vom Großvater väterlicherseits ( bo zu mu ) kann unterschieden werden von der Frau des jüngeren Bruders vom selben Großvater ( shu zu mu ).
    Hinter dem komplizierten Namensgebäude steht der Gedanke, dass schon bei der Anrede klar sein möge, wer wem wie viel Respekt zu erweisen hat. Darüber haben sich die Konfuzianer, die die Familie ins Zentrum des chinesischen Lebens stellten, ohnehin gerne den Kopf zerbrochen: wer wen herumkommandieren darf und wer wem folgen muss, damit die Familie, der Staat und schließlich die Welt geordnet bleibe – die Frau gehorche dem Mann, der jüngere Bruder dem älteren, das Kind den Eltern.
    Vor allem um die letztere Beziehung entstand im Laufe der Zeit eine reichhaltige Literatur, Anekdoten, die schließlich im »Klassiker der kindlichen Pietät« zusammengefasst und den Kleinen über viele hundert Jahre hinweg als Schullektüre eingeträufelt wurden. Kindliche Pietät ( xiao ) wird manchmal auch als »Kindesliebe« übersetzt, heißt jedoch treffender »Kindespflicht«: Da wird erzählt vom mustergültigen Sohn, der sich in der heißen Sommernacht nackt vor die Bettstatt seiner schlafenden Eltern legt, damit die Mücken sich an seinem Blute laben und die Alten verschonen. Oder vom anderen Sohn, der im Winter mit der Wärme seines nackten Körpers ein Loch in die Eisdecke des zugefrorenen Flusses schmilzt, um seiner Stiefmutter, einem giftigen, lieblosen Hausdrachen, ihre Leibspeise – frischen Fisch – fangen zu können. Als ebenso vorbildlich wird jener selbst schon ergraute Mann dargestellt, der sich mit Zöpfchen und Rassel zurechtmacht wie das Kleinkind, das er einmal war, allein um der greisen Mutter eine Freude zu machen. Bis weit ins20. Jahrhundert hinein wurde Schülern in China und auf Taiwan solches Verhalten zur Nachahmung empfohlen.
    Zumindest in Chinas Normenwelt hat es immer die Vorstellung gegeben, das eigene Leben sei in den Dienst anderer zu stellen: manchmal in den des Staates, meist in den der Familie, immer aber in den der Eltern. Lu Xun, Chinas größter Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, hat den fatalen Teufelskreis schon vor fast 100 Jahren beklagt: »Unsere Eltern, ihren Eltern geopfert und unfähig, selbstständig zu leben, fordern unnachgiebig, dass ihre Kinder sich nun ebenfalls opfern.« So war das in China: Eine jede Generation schenkte ihr Leben der vorhergehenden und erwartete das Gleiche von der nachfolgenden – und am Schluss hat keiner je richtig gelebt. Spuren dieses Musters finden sich noch heute, doch ist die Strenge der alten Werte in Auflösung begriffen: Die wirtschaftliche Modernisierung zersetzt die alten Familienstrukturen und führt im Huckepack Konsumlust und Individualismus westlicher Prägung ein, die vor allem Städter und Jugend infizieren. In den Städten war zudem die Ein-Kind-Politik erfolgreich, die mittlerweile in vielen Familien die
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