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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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Tönen ist nur halb so schlimm, und selbst Pferdebesitzer unter den Anfängern können der Verlegenheit leicht aus dem Wege gehen, indem sie ihren Rappen höchstens dann bei der Mutter von nebenan in Pflege geben, wenn sie sich vergewissert haben, dass die Frau noch nicht die Blattern hatte.
    Richtig ist allerdings, dass auch unter Chinesen die Vermutung weit verbreitet ist, die Beherrschung ihrer Sprache seiihnen in die Gene gestrickt und Menschen mit weißer Haut und grünblauen Augen gewissermaßen qua Geburt verwehrt. Vor allem in den Provinzen gerät der Fremde so in Situationen, in denen er in der Landessprache nach dem Weg fragt und vom Angesprochenen lediglich einen verständnislosen Blick erntet, weil es ja unmöglich Chinesisch gewesen sein kann, was da aus dem Mund des Ausländers purzelte. Mir wurden auch schon wiederholte Nachfragen beantwortet mit einem lakonischen »Entschuldigung, wir sprechen kein Englisch«. Das mag aber auch ein höflicher Kommentar zur Qualität meines Mandarin gewesen sein.
    Es ist dies psychologisch ein interessanter Vorgang, der auch umgekehrt funktioniert. John Steinbeck erzählt in »Jenseits von Eden« vom chinesischen Farmarbeiter Lee, der sein Leben lang das gebrochene Pidginenglisch der Einwanderer plappert – bis Farmer Samuel eines Tages durch Zufall entdeckt, dass der in Kalifornien geborene Lee des feinsten Englisch mächtig ist. Der verblüffte Samuel stellt Lee zur Rede und fragt ihn, warum in aller Welt er zu den Leuten im Dorf nicht in normalem Englisch spreche, woraufhin Lee ihm erklärt, er habe dies früher wohl versucht, sei dann aber grundsätzlich ignoriert oder nicht verstanden worden: weil die Leute von einem Chinaman wie ihm einfach kein Englisch erwarteten. »Du siehst, was ist«, lobt Lee seinen Boss Samuel. »Die meisten Menschen aber sehen nur, was sie erwarten.«
    Um mich dem zu nähern, »was ist«, habe ich die Form des Wörterbuches gewählt. China soll sich in diesem Buch über seine Begriffe und sein Verhältnis zu diesen zu erkennen geben. Ein zweites Motiv war der Zauber der Schriftzeichen selbst: ihre Schönheit, ihre schicksalhafte Bedeutung für das Land. Stärker als bei uns war Schreiben in China Kulturtechnik, die weit mehr vermochte, als bloß Information zu vermitteln: Die Schrift hielt China zusammen. Das galt spätestens, seit der erste Kaiser im Jahr 221 vor Christus alle im Reich umherzigeunernden Zeichen ins Einheitsquadratpferchte. Die Schrift war Klammer: für all die Provinzen dieses Landes, das eigentlich ein Kontinent ist und in dessen Ecken und Enden noch immer Dutzende von Dialekten gesprochen werden, die miteinander so viel oder so wenig zu tun haben wie das Deutsche mit dem Englischen. Und sie war die Klammer für die Jahrtausende: Die den Chinesen eigene Intimität mit ihrer Geschichte hat auch mit den Schriftzeichen zu tun, die sich über Jahrtausende hinweg kaum geändert haben. Ein durchschnittlich gebildeter Chinese, der vor einer Tempelinschrift aus dem zwölften oder einer Stele aus dem achten Jahrhundert steht, wird die hineingeschnitzten und -gemeißelten Zeichen sofort erkennen und mit etwas Glück den Text lesen können – was eine Vertrautheit mit dem eigenen Altertum ermöglicht, die uns unvorstellbar ist.
    Leider verdankt China dies ausgerechnet jener Eigenart seiner Schrift, die ihre Studenten gern zur Verzweiflung treibt: Anders als bei uns hat ein chinesisches Zeichen mit der Aussprache des Wortes, das es darstellt, nichts zu tun. Die autonome Existenz der Schriftzeichen im Reich der Bilder hat wie beschrieben den Vorzug, dass dieselben Zeichen verschiedenen Dialekten zur Verfügung stehen können und dass die Schrift über die Jahrhunderte hinweg nicht dem Wandel des gesprochenen Chinesisch nachhecheln musste: Es haftet ihr also der Hauch des Ewigen an. Gleichzeitig ist es ein Kreuz. Wenn ich aus den mir im Deutschen zur Verfügung stehenden 26 Buchstaben das Ihnen bislang unbekannte Wort »Pflumpf« kreiere, dann wissen Sie sofort, wie Sie es auszusprechen haben; begegnet hingegen ein Chinese einem Zeichen, das er noch nie gesehen hat, steht er erst einmal sprachlos davor. Im Chinesischen muss man jedes Wort doppelt pauken: Aussprache und Schreibweise. Um einigermaßen Zeitung lesen zu können, braucht einer einen Wortschatz von 3000 bis 3500 Zeichen. (Das bekannte Lexikon des Kaisers Kangxi verzeichnet zwar mehr als 47000 Zeichen, aber die kann kein Mensch. Das Erziehungsministerium hat
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