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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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möchte ich meinem Land so viele Privatunternehmer wie möglich schenken.« China ist eine Weltraumnation, jubelt der Staatspräsident; es hungern hier noch 30 Millionen Menschen, meldet sein Premier. China ist cool, sagt die junge Skandalautorin aus Kanton; China bricht mir das Herz, sagt der Rechtsanwalt aus Shaanxi.
    Die einen fahren BMW. Die anderen sind froh, wenn sie einmal im Jahr ein Stück Fleisch in die Schüssel bekommen.Die Zahl der Milliardäre wuchs dem »Hurun-Report« zufolge von 15 im Jahr 2006 auf mehr als 100 nur ein Jahr später an, heute sind es knapp 500. Noch schneller aber wächst die Zahl der Bauern, die von angeheuerten Schlägern verprügelt und hernach eingesperrt werden, weil sie sich gegen die Enteignung ihrer Länder wehren. Das sich »kommunistisch« nennende China hat mittlerweile ein größeres Wohlstandsgefälle als Simbabwe und ein größeres als Indien. Sagt die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften in Peking.
    China verwirrt. Darauf sollten Sie sich gefasst machen. Es gibt nicht ein China, es gibt viele Chinas: China ist der Name für ein Universum, das Myriaden von Parallelwelten beherbergt. Manche scheinen nie in Kontakt miteinander zu kommen, andere berühren und überschneiden einander, wieder andere schwirren mit Vollgas aufeinander zu: Schild und Speer. In China kann einer Erste Welt und Dritte Welt finden, gestern und morgen, kommunistische Ödnis und kapitalistischen Glanz, sexuelle Revolution und brutale Diktatur, Bauernarmut und Millionärsvöllerei, genialen Pragmatismus und deprimierendes Dogma, Blüte und Fäulnis, Korruption und Heldentum. Wenn man nur die Augen offen hält. Und wer wollte entscheiden, welches das eigentliche China ist?
    Es ist nicht einfach, aus China schlau zu werden. Aber vielleicht ist das wiederum etwas typisch Deutsches: das Schlauwerdenwollen. Während unsere Denker sich mühten, die störrische Welt in ihre Gedankengebäude zu pressen, haben es die alten Chinesen meist so gehalten: huldigten vor dem Frühstück den Ahnen, opferten des Mittags dem Buddha und beteten des Nachts im daoistischen Tempel. Wenn’s hilft. Es scherte sich nicht viel um Jenseits und Metaphysik, um Dogma und Prinzip, dieses Volk, sondern nährte sich lieber vom Mark des Praktischen, gönnte der Welt ihren Lauf und ließ sich darin treiben. Die Daoisten haben solche Naturergebenheit gepredigt, sie waren es, die das Yin und das Yang zum Höchsten Äußeren, zum Taiji, verschmolzen. Sie lehrten ihrVolk, dass das Dunkle nicht ohne das Helle, das Kühle nicht ohne das Warme, das Weibliche nicht ohne das Männliche und auch das Gute nicht ohne das Böse auskäme, dass beide sich vielmehr gegenseitig durchdrängen. Vielleicht rührt daher die Gelassenheit der Chinesen im Umgang mit Widersprüchen: Es wird sich schon aufs Richtige ausbalancieren. Und wenn nicht – China war über große Strecken seiner Geschichte verheerend aus dem Lot –, dann hat man wenigstens seine Energie nicht verschwendet auf Dinge, die ein Einzelner ohnehin nicht beeinflussen könnte.
    »Gerade weil China ein Rätsel ist, ist es so liebenswert«, schrieb einmal der Schriftsteller Zhang Xianliang: Die Tatsache, dass er das schrieb, nachdem er 20 Jahre in Maos Arbeitslagern gesessen und darüber fast verreckt wäre; dass er ferner nach seinem Martyrium Mitglied der Kommunistischen Partei wurde und dies bis heute ist; dass ihn weiterhin sein Parteibuch nicht daran hinderte, der erfolgreichste Privatunternehmer der Provinz Ningxia zu werden und in Aufsätzen die »Rehabilitierung des Kapitalismus« zu fordern; und schließlich dass kaum ein Chinese sich über eine solche Karriere wundern wird – all das mag die schier grenzenlose Bereitschaft dieses Volkes zur Versöhnung des Unversöhnlichen illustrieren.
    Mein Rat: Misstrauen Sie jedem, ob Ausländer oder Chinese, der eine einfache Erklärung für China hat. Es gibt keine Erklärung für China, es gibt allerdings meist eine für die Erklärung: Denkfaulheit. Aus irgendeinem Grund scheint der Mensch, zumal der im Westen groß gewordene, so beschaffen zu sein, dass er Widersprüche nicht gut aushält: Sperrt man ihn in ein Zimmer, in dem Tohuwabohu herrscht, so wird er bei Verlassen des Zimmers – vorgeblich der Logik halber, in Wirklichkeit aber der Bequemlichkeit oder des eigenen Seelenfriedens zuliebe – den Zwang verspüren, das Gesehene auf einen Nenner zu bringen: China ist die Zukunft der Welt! oder: China ist eine finstere Diktatur!
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