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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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Für beide Aussagen wird man wunderbare Belege finden können,beide aber geben die Wirklichkeit so treffend wieder wie jener Blinde den Elefanten, den er am Schwänzlein zu fassen kriegte. So also sehe ein Elefant aus, rief der Blinde: Rund und lang wie eine Schlange!
    Sollten Sie Chinas Schwänzlein zu fassen bekommen, so zögern Sie nicht, sich noch weiter vorzutasten. Sie werden sich wundern, wie viel es zu entdecken gibt. Das ist überhaupt das Schöne an diesem Land: Egal, ob man seine Geografie durchstreift, sich in seiner Geschichte verliert oder aber von seinem turbulenten Jetzt umherschleudern lässt: Einmal um die Ecke geblinzelt, schon versinkt man in neuen Märchenlandschaften. Und hier glänzt Gold, und dort tropft Blut.
    China. Ein Kontinent: von der Tundra im Norden zur Tropeninsel im Süden, von der Wüste Taklamakan im Westen bis zur Wirtschaftswunderküste im Osten. Sie können den Himalaja besteigen, mit Kamelen wandern, an tropischen Stränden baden und sich in Wolkenkratzern spiegeln. Und alles nennt sich China. Sie werden smarte Schanghaier von zierlichem Körperbau treffen und hochgewachsene, erdige Pekinger. Die einen werden Ihnen erzählen, die Pekinger seien Bauerntrottel und Bürokratenhintern, die in einem staubigen Wüstenkaff hockten; die anderen werden sich mokieren über verzärtelte Schanghaier Männer und raffinierte, stets ihren Vorteil errechnende Schanghaier Frauen. Beide zusammen werden sie alsdann den Wagemut des Wenzhouer Unternehmerhirns preisen, die Standfestigkeit der Harbiner Leber sowie das Feingefühl des kantonesischen Gaumens – und Sie anschließend warnen vor den Menschen der Provinz Henan, welche nichts als Schwindler und Diebe hervorbringe, und die Henaner werden zu Recht beleidigt aufheulen. Und alle nennen sich Chinesen.
    Sowenig es die eine Chinaformel gibt, so sehr ist das Geraune Quatsch, welches das Land zum undurchdringlichen, exotischenMysterium erklärt, an welchem alle abendländische Wissbegier abperle wie Sommerregen an der Wasserbüffelhaut. Wie für jede Kultur, so gilt auch für die chinesische, dass der aufmerksame Beobachter von außen manche Dinge schärfer sieht als der in sie Verstrickte. Selten habe ich herzlichere, gastfreundlichere und gesprächigere Menschen getroffen als in China, und wenn etwas dem Erkenntnisgewinn im Wege steht, dann vor allem der Wirbelwind des Umbruchs, der in China wütet: Niemand ist im Moment verwirrter als die Chinesen selbst.
    Sich an andere Völker heranzumachen lohnt sich selten so sehr wie im Falle Chinas. Schon deshalb, weil zur Belohnung kulinarische Erweckungserlebnisse winken, die dem Sucher der Glückseligkeit den Umweg über Buddhas achtfachen Pfad ersparen. Und es ist gar nicht so schwer. Könnten die Deutschen so gut Chinesisch wie Autos bauen, dann würden sie bald feststellen, dass unsere Völker außer der Freude am Pkw und der Teilnahme am Boxerkrieg noch weitere Gemeinsamkeiten haben. Zum Beispiel die Liebe zu Schweinshaxen, Bier und »Sissi« beziehungsweise » Xixi «, so heißt die junge Romy Schneider nämlich auf Chinesisch. Tatsächlich findet man unter all den raubkopierten Filmen in Pekings Gaunertaschen auch allerlei deutsche. Immer dabei: die »Sissi«-Trilogie. Wie das kommt, müsste mal einer untersuchen. Wahrscheinlich, weil die meisten Chinesen auch kein Deutsch können.
    Die Chinesen sind im Übrigen mindestens so fussballverrückt wie die Deutschen, nein, eigentlich sind sie noch verrückter, denn bei ihnen ist es eine Leidenschaft von bitterer und tragischer Größe. Sie steht nämlich in keiner Relation zum Spiel ihrer Nationalmannschaft, welche seit mehr als vier Jahrzehnten ein masochistisches Verhältnis zum Erfolg pflegt (der Chinese und das Tor: Man geht sich aus dem Weg). Fußball teilt sich in China mit dem Buddhismus die höchste aller Wahrheiten, wonach alles Leben Leiden sei. Aber vielleicht haben wir Deutschen auch da ja bald gleichgezogen.
    Manchmal glaubt man, Begegnungen der dritten Art zu haben, etwa wenn man auf junge Chinesen trifft, die einem Heintjes »Kleine Kinder, kleine Sorgen« vorträllern. Heintjes Einfall in die chinesischen Gehörgänge war nicht die einzige unglückliche Nebenwirkung einer den Pfennig dreimal umdrehenden Filmimportpolitik des chinesischen Fernsehens – sie sorgte dafür, dass über lange Jahre das Deutschlandbild der Chinesen um durchschnittlich zwei Jahrzehnte hinter der Aktualität herhinkte. Man brauchte sich vor noch gar nicht
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