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Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Gebrauchsanweisung für China (German Edition)

Titel: Gebrauchsanweisung für China (German Edition)
Autoren: Kai Strittmatter
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Tradition auf den Kopf gestellt hat: Heute steht oft die ganze Familie dem einen verwöhnten Fratz zu Diensten.
    Das neue China. Einst gab es in diesem Land nichts Wichtigeres als die Familie und nichts Geringeres als die Frau. Später gab es den allmächtigen Staat, der den Frauen zwar die Hälfte des Himmels versprach, seinen Bürgern aber noch in ihren Himmelbetten das proletarisch korrekte Treiben vorschrieb. Heute gibt es in der Provinz Jilin in Chinas Nordosten ein Gesetz, das Unerhörtes erlaubt: uneheliche Kinder. »Frauen, die es vorziehen, ihr Leben allein zu führen«, heißt es in dem Gesetz, dürften ein Kind zur Welt bringen mithilfe »gesetzlich erlaubter medizinischer Methoden« – künstlicher Befruchtung also. Das Gesetz löste in ganz China eine stürmische Debatte aus. Über die Rolle der Familie, über die Rechte derEinzelnen. Mag da in Peking auch eine mächtige »Familienplanungs-Kommission« sitzen – die Bürger planen ihr Privatleben mittlerweile selbst.
    Aber hat China nun eine strenge Ein-Kind-Politik oder nicht? Ja und Nein. Ja, es gibt strenge Gesetze und Strafen für Eltern, die mehr als ein Kind bekommen (wie jeder im Westen weiß). Und trotzdem ist die Ein-Kind-Familie in China nicht die Regel, sondern die Ausnahme (was die meisten Europäer überrascht): Nur jedes fünfte Kind in China ist heute ein Einzelkind. Warum? Weil der Großteil der Menschen durch die Maschen des Netzes schlüpft: weil sie unter die Ausnahmeregeln fallen, wie sie für Minderheitenvölker gelten oder für Bauern, deren erstes Kind ein Mädchen ist. Oder aber weil sie sich um die Regeln schlicht nicht scheren. Manche zählen zum Heer der durchs Land streifenden Wanderarbeiter, die den Kontrollen entschlüpfen (sind es 100 Millionen? 150 Millionen? Keiner hat sie wirklich gezählt, jene Bauernsöhne und -töchter, die sich als Tagelöhner in den Städten verdingen). Andere, weil sie die Strafen zahlen, ohne mit der Wimper zu zucken: 10000 Euro Buße kostet es in Peking, unerlaubt ein zweites Kind zu haben. Die Zahl der Chinesen, die sich das leisten können, wächst von Tag zu Tag. Außerdem hat die Regierung mehr Ausnahmen angekündigt. China altert. Einige Experten meinen, das Land bräuchte wieder mehr Kinder.
    »Gebäre nur einmal, dafür in besserer Qualität!«, ist einer der Wandsprüche, die die Familienplanungs-Kommissionen im ganzen Land an die Wände von Bauernhäusern und Fabriken pinseln. Die Sprüche verfangen vor allem auf dem Land nicht recht, wo ein Sohn für viele noch immer die einzige Altersversicherung ist. Deshalb hat die Regierung verfügt: Wer ein Mädchen bekommt, hat einen zweiten Versuch frei. Töchter nämlich verlassen bei der Heirat ihre eigenen Eltern und werden Teil der Familie des Mannes. Der Sohn aber bleibt zu Hause, er sorgt für die Eltern. Das Sehnen nacheinem Sohn hat mittlerweile zu einer gefährlichen Verschiebung im Gleichgewicht der Geschlechter geführt, vor allem auf dem Land. Im Jahr 2000 kamen bei den Geburten in China auf 100 Mädchen 117 Jungen, auf der Insel Hainan waren es sogar 130 Jungen. Das die Regierung beratende Bevölkerungskomitee warnte, bis zum Jahr 2020 könnte es in China 30 bis 40 Millionen frustrierter junger Männer geben, die keine Frau finden: »Mehr Verbrechen und soziale Probleme wie Zwangsehen, Frauenentführungen und Prostitution wären eine mögliche Folge.« Das größte Problem ist mittlerweile die Verbreitung der Ultraschalltechnik. Offiziell ist die Geschlechtsbestimmung vor der Geburt mit dem Ziel der Abtreibung verboten, aber wie viele Gesetze in China kann auch dies gegen einen kleinen Obolus umgangen werden. Quacksalber ziehen mit mobilen Ultraschallgeräten von Dorf zu Dorf und bieten heimlich ihre Dienste an.
    Einen Sohn zu haben ist traditionell nicht bloß der materiellen Absicherung wegen wichtig: Nur ein männlicher Nachkomme darf den Ahnen opfern, nur er kann dafür sorgen, dass ihre Seelen in Frieden ruhen. (»Wenn ein Sohn geboren wird / lass ihn im Bett schlafen / kleide ihn in feines Tuch / und gib ihm Jade zum Spielen«, heißt es im fast 3000 Jahre alten »Buch der Lieder«: »Wenn eine Tochter geboren wird / lass sie auf dem Boden schlafen / wickle sie in groben Stoff / und lass sie spielen mit Ziegelbrocken«.) Mit der Unsterblichkeit war es in China meist so, dass man sie in der unendlichen Fortsetzung der eigenen Familienlinie suchte. So sprach Menzius (379–289 v. Chr.), der Nachfolger des Konfuzius: »Drei
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